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Unser Weg zum Hören

Von Anne S.

Ich habe Berichte gelesen, in denen Eltern von Fehldiagnosen erzählen und deren Kinder deswegen erst spät implantiert wurden.

Bei uns waren es keine Fehldiagnosen, die dazu führten, sondern Beruhigungs-Standardsätze, mangelndes Ernstnehmen, zu viel Abwarten und auch ein Stück weit alleingelassen werden, ohne die richtigen Informationen an die Hand zu bekommen.

Als unser Sohn Oskar 2014 geboren wurde (normale Schwangerschaft, normale Geburt, kerngesundes Kind) war das Neugeborenen-Hörscreening „nicht möglich“ (so wurde es immer wieder gesagt). Jeden Tag versuchten sie es neu, es „klappte aber nicht“ weil:

  • zu viel Fruchtwasser im Ohr
  • zu enge Gehörgänge
  • das Gerät laufend spinnt und nicht funktioniert
  • zu viel Geräusche drum herum

Mein Mann und ich machten uns keine Sorgen, weil keine Hörschädigungen in der Familie bekannt sind. Wir fuhren dann mit unserem Baby nach Hause und wurden vier Wochen später wieder zu einem Termin in der Geburtsklinik eingeladen.

Oskar, völlig entspannt und abgefüttert, schlief bei diesem Termin auf meinem Schoß und ließ die 45 Minuten dauernde Prozedur, mit Gel auf dem Köpfchen etc., über sich ergehen. Nichts funktionierte. Es wurden wieder oben genannte Gründe genannt, warum dies nicht funktionieren würde. Zudem knatterte die ganze Zeit ein Hubschrauber ums Haus. Im Nachhinein fragt man sich schon, warum solche Hörtest in nicht isolierten Räumen überhaupt gemacht werden?

Wir wurden wieder vertröstet, da wird schon nichts sein, wir haben ja niemanden in der Familie. Ansonsten müssten wir halt nochmal wieder kommen.

Nun begann eine Zeit des Warten und Beobachtens. Ich beobachtete mein Baby, er reagierte auf laute Geräusche. Ich probierte es immer wieder mit den unterschiedlichsten Dingen aus, mal mit mehr – mal mit weniger Erfolg. Oskar war immer gut drauf, völlig entspannt und weinte so gut wie nie, meine Hebamme meinte: „Es gibt einfach Babys die sich von nichts aus der Ruhe bringen lassen.“

Ich fragte in einer HNO-Arztpraxis im nahen Bremen nach, die sich auf Kinder spezialisiert hatten. Ich könne jederzeit für einen Test vorbeikommen, dafür müsste er tief und fest schlafen. Oskar schlief tagsüber nicht viel und wenn dann total unregelmäßig, so dass ich nicht planen konnte, wann ich dorthin fahren könnte. Abends wäre gut gewesen, aber da hatte die Praxis natürlich zu.

Alternativ dazu gäbe es nur den Test in Vollnarkose. Das schreckt einen natürlich als Mutter ab, deswegen befasste ich mich erst mal nicht mehr mit diesem Thema.

Nun hatte ich also ein zufriedenes, entspanntes Baby, welches selten bis nie auf Ansprache reagierte und auch so gut wie keinen Augenkontakt pflegte. Also schaute ich mich im Internet um, dort gab es einen Selbsttest, ob das Kind evtl. an Autismus leiden könnte. Nein, allem Anschein nach nicht. Natürlich ersetzt dieser Test keine genaue Diagnostik, aber es beruhigte mich erst mal.

Je älter er wurde, desto mehr merkte man, dass da etwas nicht stimmen konnte (eigentlich wusste ich es sehr früh, aber wenn man unsicher ist, dann glaubt man gerne den Worten der Ärzte, dass schon alles ok sei). Mittlerweile war Oskar acht Monate alt.

Wir fuhren dann in eine HNO-Abteilung in einem Krankenhaus in Bremen für einen Hörtest in Vollnarkose.

Das war eine harte Erfahrung. Ich musste mein Baby wach in viele mit Mundschutz versehene Grünkittelhände abgeben. Sehr erschreckend, nicht nur für mich.

Kurze Zeit später im Aufwachraum, Oskar schrie eine Stunde wie am Spieß, kam der Chefarzt und erzählte mir kurz von der Diagnose: einseitig mit Röhrchen versorgt, Hören ab 80-90db nachweisbar. Ich verstand nicht viel, weil mein Baby mich forderte. Irgendwann kam Oskar im Zimmer zur Ruhe, da kam der Chefarzt nochmal für ein paar Minuten und erzählte mir etwas von „Versuch mit Hörgeräten“ „evtl. nach einem halben Jahr erneutem Test“ „Ci´s“...ich verstand nicht viel.

Auf meine erneute Nachfrage, was ich denn jetzt tun solle, wurde ich zu meinem Ohrenarzt geschickt (ich hatte keinen) und der solle mir eine Hörgeräteverordnung ausstellen. Mehr Infos bekam ich nicht.

Die Diagnose war erschreckend. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so wenig hörte. Für mich war die Vorstellung eines Hörgerätes sehr negativ behaftet, ein Grundschulfreund meines Bruders hatte vor 25 Jahren auch Hörgeräte, und die waren hässlich ockerfarben und piepten oft sehr schrill.

Wir sind dann zu einem Ohrenarzt bei uns im Ort gegangen. Dieser war planlos, weil Oskar noch so klein war, der Hörgerätetechniker, den er anrief und wegen der Verordnung nachfragte, genauso. Irgendwann standen wir mit einer ausgefüllten Hörgeräteverordnung etwas orientierungslos auf der Straße.

Langsam hatte ich das Ganze auch realisiert und kam selber in Bewegung. Ich befragte das Internet und bekam eine tolle Adresse: Ein Kinderhörzentrum, was sich nur um Hörgeräteversorgungen bei Kindern kümmerte. Die gaben uns endlich auch mal Kontaktadressen vom LBZ, Frühförderung,...

Hätte ich diese Adresse nicht gefunden, wäre es sicher noch ein längerer Prozess geworden. Oskar bekam schicke türkisfarbene Hochleistungshörgeräte. Er zeigte bei dem Hörtest vor Ort zwar keine eindeutigen Reaktionen, aber zu Hause ahmte er SOFORT das Miauen der Katze nach.

So ging dann wieder etwas Zeit ins Land, er tolerierte die Hörgeräte super, fing an zu plappern und erste Worte zu sprechen (Mama, Papa, Wauwau, Muh,...) und kannte Bedeutungen wie NEIN, KOMM, Oskar, … Er kannte das Hundebellen, die Türklingel, liebte Musik,... . Nur leider stockte seine Hör- und Sprachentwicklung irgendwann, so dass wir uns doch mit dem Thema „Cochlea Implantat“ auseinandersetzen mussten.

Mittlerweile war ich ungeplant, aber doch gewollt, wieder schwanger. Ich machte mir während der Schwangerschaft nicht viele Gedanken über das Hören dieses Kindes, wo es doch auch ein Mädchen werden sollte...

Emma erblickte genau 15 Monate nach Oskar das Licht der Welt. Und was soll ich sagen, nicht nur, dass der Hörtest „wieder nicht funktionierte“, nein, mir wurden sogar, obwohl ich betonte, dass ich zu Hause schon einen kleinen „Hörenix“ habe, die gleichen Ausreden gebracht, wie „zu viel Fruchtwasser, etc. ...“. Aber mir war klar, bei Emma wird es ähnlich sein.

Da Oskar aber in der Zeit sehr fordernd wurde und wir uns bei ihm ja auch grade im Entscheidungsprozess befanden was wir nun machen, stellten wir Emma erst mal hinten an. Wir bekamen in Hannover einen Termin zur CI Voruntersuchung für Oskar, da war er knapp 1,5 Jahre alt. Emma war zwar mit in der MHH, es ging aber nicht um sie.

Nach der Untersuchung „freuten“ sich alle Fachleute, dass Oskar CI´s bekommen könne, auf den Gängen traf ich Eltern, die nur vom CI ihrer Kinder schwärmten, ich kam mir vor wie auf einer Werbeveranstaltung. Es war ein krasser Gegensatz zu vorher (mir wurde immer Zeit und die Entscheidung gelassen, was denn nun als nächstes passieren könnte), auf einmal zeigten alle Zeiger Richtung CI.

Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden habe, dass es durchaus auch Kinder gibt, bei denen eine CI Versorgung aus anatomischen Gründen nicht möglich ist. So sind wir dann mit einem ziemlich kranken Kind (Fieber für 2 Wochen, Wesensveränderung für 4 Wochen) nach Hause gefahren. Diese Nebenwirkungen haben es mir natürlich nicht leichter gemacht, mich für eine erneute OP zu entscheiden.

Oskar wurde dann mit 20 Monaten in der MHH beidseits implantiert. Und damit es nicht langweilig wurde, haben wir Emma am gleichen Tag zur Voruntersuchung in den OP gegeben. Ich war ja nun mittlerweile an das Abgeben meiner Kinder für die Narkose einigermaßen gewöhnt, vor allem, weil die Narkoseärzte der MHH mich eigentlich immer bis zum „Einschlafen“ dabei ließen und es so entspannter für alle Seiten war. Aber beide Kinder gleichzeitig abzugeben, war schon eine andere Hausnummer.

Emma kam um 14:30 Uhr in den Aufwachraum und als sie soweit fit wurde, dass ihr Papa sie mit auf die Station nehmen konnte, wurde gleichzeitig mein zweites Kind in den Aufwachraum geschoben, dieses mit dickem Verband um den Kopf. Das war eine seltsame Situation. An diesem Nachmittag habe ich drei Stunden im Aufwachraum verbracht.

Bei Emma stellte sich sogar eine noch höhere Hörschwelle heraus, bis 100dB gab es keine Antworten. Das haute mich aber nicht mehr um, mittlerweile hatte ich mich mit dem Gedanken abgefunden. Beide haben den Krankenhausaufenthalt gut überstanden, als es nach Hause ging, waren beide fit und guter Dinge.

Oskar hatte nun vier Wochen bis zur Erstanpassung. Das war schon nach kurzer Zeit sehr anstrengend. Er und wir waren ja gewohnt, dass wir, auch wenn nur auf geringen Niveau, kommunizieren konnten. Er wurde sehr laut und sehr schnell frustriert. Verständlich!

Man überlegt sich ja vorher, ob man wenn möglich gleich beide Seiten implantieren lässt oder man dies nacheinander macht. Das muss jede Familie für sich selbst entscheiden und wenn man Zeit und Kapazitäten hat, sprechen auch Gründe dafür, die Seiten nacheinander machen zu lassen. Da uns aber ja bevorstand, dass beide Kinder operiert werden mussten, haben wir uns vor allem für wenige OP´s und somit für wenige Krankenhausaufenthalte entschieden.

Die Erstanpassungswoche verlief für Oskar und die Fachleute im CIC sehr gut, er tolerierte seine Geräte super, zeigte schon erste kleine Reaktionen auf Geräusche.

Ich war etwas genervt – einerseits fielen laufend die Spulen ab und andererseits hatte ich irgendwie erwartet, dass wir sprachlich dort ansetzen konnten, wo wir mit den Hörgeräten aufgehört hatten. Dass die Kinder ganz neu Hören lernen mussten, war mir nicht so bewusst gewesen. Also war dem (natürlich) nicht so, es vergingen noch 3 Monate, bis wir am Ausgangspunkt waren.

Emma bekam nach der Voruntersuchung erst mal Hörgeräte. Zu einem empfehlen sie ja meistens, die Ohren vorab mit Hörgeräten zu versorgen, zum anderen wäre ich auch mit zwei (frisch) implantierten Kindern schlicht überfordert gewesen. Ich wollte mich erst mal auf das eine Abenteuer einlassen um dann gut vorbereitet für das zweite zu sein.

Emma fand die Hörgeräte richtig doof. Ohne Mütze ging da gar nichts, auch im Haus trug sie nun Mützen. Reaktionen konnten wir trotz hoher Einstellung nicht feststellen. Das war zu erwarten gewesen, ich denke, sie nahm die Geräte deswegen immer raus, weil sie ihr einfach nichts brachten.

Nach sechs Monaten waren wir mit Oskars CI´s routiniert, so dass wir Emma dann mit 12 Monaten implantieren ließen. Mittlerweile schon fast Routine für mich, so dass ich mir nicht allzu große Sorgen machte. Und es klappte auch alles prima.

Emmas Erstanpassung verlief (bis auf einen Magen Darm Infekt, der die ganze Familie niederstreckte) auch ganz problemlos. Da Emma bis dahin ja nichts gehört hatte, wurde sie auch nicht so launisch wie Oskar in der Zeit, bis sie anfing mit Sprache etwas anfangen zu können.

Nun ist Oskar mittlerweile 4,5 Jahre alt. Bis auf zwei kleine Vorkommnisse kommen wir super mit den CI´s klar. Er hat sprachlich leider noch einiges aufzuholen, scheinbar hat er zu dem Hörproblem noch eine Sprechapraxie (Störung der Planung von Sprechbewegungen).

Das macht das ganze natürlich langwieriger und zeitaufwendiger, aber trotzdem haben wir nie bereut, ihn implantieren zu lassen. Er kommuniziert viel und gibt nie auf oder ist frustriert, wenn andere nicht verstehen, was er zu ihnen sagt. Verstehen tut er mittlerweile fast alles, was wir ihm sagen, wir können sogar flüstern und alles kommt an.

Emma ist eine kleine Schwatzliese, sie singt und redet den ganzen Tag. Sprachlich hat sie ihren Bruder überholt, sie hat zwar auch noch einige Probleme mit der Aussprache, aber sie ist ja auch erst drei Jahre alt.

Im Nachhinein kann ich sagen, dass die Entscheidung für das CI genau richtig war. Emma musste zwar schon einmal nach einem bösen Sturz direkt auf das Implantat reimplantiert werden, aber so etwas kann leider dazugehören und es ist alles gut gegangen.

Allerdings gibt es einige Dinge die uns wirklich viel Energie und Zeit geraubt haben und werden.

Ich finde die Geburtskrankenhäuser sollten nicht so lapidar mit diesen Hörscreenings umgehen und den Eltern sofort die richtigen Kontaktadressen geben können. Wenn es sich als Irrtum herausstellt, ist es dann doch auch gut.

Die Klinik, die die erste Diagnose von Oskar gestellt hat, hätte uns diverse Adressen von Beratungsstellen etc. mitgeben müssen. Es ist eigentlich ein Unding, dass man sich das alles selber erarbeiten musste.

Ganz schlimm ist die Krankenkasse gewesen bzw. immer wieder auf´s Neue. Wir sind privatversichert. Wir bekommen im Krankenhaus zwar immer ein Einzelzimmer (das hat die Aufenthalte dort immer sehr erträglich gemacht), aber um alles andere mussten wir mit Händen und Füßen kämpfen. Sei es für die Batterien der Hörgeräte (haben wir nie bezahlt bekommen), für die „Rehatermine“ im CIC, für Ohrpasstücke,...

Aktuelles Thema ist, dass ich mit beiden Kindern gerne in eine vierwöchige Sprachheilreha gehen würde. Es ist nur scheinbar keiner dafür zuständig. Sowohl Krankenkasse als auch Rentenkasse haben abgelehnt. Mir hat die Rehaeinrichtung auch nicht viel weitergeholfen, außer mir anzubieten dass ich den Aufenthalt auch gerne privat zahlen könne. Nur sind knappe 30.000 Euro nicht in meiner Portokasse.

Die Ämter sind auch eine Klasse für sich. Oskars Schwerbehindertenausweis hat ganze sechs Monate gedauert. Für unseren Heimgebärdensprachkurs kämpfen wir alle sechs Monate aufs Neue. Die Bewilligung des Integrationsplatzes im Kindergarten war bei beiden Kindern erst kurz vor Kindergartenjahrbeginn da.

Es schlaucht einfach tierisch wenn man von überall her Baumstämme zwischen die Beine geworfen bekommt. Ich sitze regelmäßig bei uns im Büro und bearbeite nur Akten, Ablage, Anträge, Abrechnungen,...

Trotzdem blicken wir als Familie positiv in die Zukunft. Wir haben durch die „Ohren“ viele neue Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen. Bis jetzt werden die Kinder trotz ihrer „Ohren“ überall akzeptiert und herzlich aufgenommen. Wir haben einen tollen Kindergarten erwischt, die sich sehr viel Mühe geben und durch die beiden gehörlosen, unversorgten Kinder, die ebenfalls dort betreut werden, gebärden sie dort auch. Wir haben erste Kontakte im nahen Gehörlosenverein geknüpft. Es gibt hier in der Nähe eine sehr engagierte Schule für Hörgeschädigte, die wir uns schon angeschaut haben.

Auch wenn es natürlich erst mal eine erschreckende Diagnose ist, wenn die Kinder „gehörlos“ sind, ist es Wahnsinn was die Technik leisten kann und wie gut man damit durch die hörende Welt kommen kann.

Ich sage immer, selbst wenn die Hör- und Sprachentwicklung meiner Kinder auf dem aktuellen Stand bleiben würde (was es ja nicht tun wird), dann haben wir doch so viel dadurch gewonnen.

Februar 2019
Anne S.