Zum Hauptinhalt springen

„Schwere Steine“

Von Mareike Drygala

Kennen Sie Johann Wolfgang von Goethe? Er sagte einst „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen“. Dieses Zitat beschreibt sehr gut meinen bisherigen Lebensweg. Teilweise habe ich mir selbst Steine in den Weg gelegt, indem ich mich für den schweren Weg entschieden habe, aber ich muss sagen, es hat sich gelohnt. 

Ich bin Mareike Drygala und bin 32 Jahre alt. Geboren bin ich 1987 in Bremen - normalhörend. Zumindest hat man in meinen jungen Jahren noch keine Hörbeeinträchtigung festgestellt. Erstmals mit sechs Jahren habe ich meine ersten Hörgeräte bekommen. Zu Recht, wie alte Videos aus meiner Kindheit zeigen. Nach dem Baden im heimischen Planschbecken habe ich mich neben meine Oma gestellt und sie förmlich angebrüllt, dass ich mal bitte ein Handtuch bräuchte, denn ich sei nass und müsse mich abtrocknen. Von Lautstärke und Bestimmtheit hätte ich mit dieser Lautstärke auch ein Regiment bei der Bundeswehr führen können. Meine Mutter sah das aber anders und schickte mich in die Grundschule. Schulbildung ist eben auch wichtig. Die Grundschulzeit war schwer.

Zunächst musste meine Mutter überhaupt kämpfen, dass ich auf die Grundschule um die Ecke gehen durfte und nicht in die weit entfernte Gehörlosenschule musste. Dorthin wollte mich der damalige Schuldirektor auf Grund meiner schlechten Hörverfassung und der Versorgung mit Hörgeräten gerne schicken. Am Ende hat sie gewonnen und ich wurde in eine normale Grundschule aufgenommen. Ich hatte natürlich Freundinnen, aber genauso oft musste ich Ablehnung erfahren, denn „du hörst ja nicht richtig, wir können gar nicht richtig mit dir spielen“.

Obwohl ich nichts dafür konnte, dass ich schlecht hörte, erfuhr ich noch in der weiterführenden Schule Ablehnung gegen meine Person, was diese Zeit sehr schwer für mich machte. Ich ging zunächst auf die Realschule. Meine Klassenlehrerin hat sich immer für mich eingesetzt. Auch meine Mutter. Als ich in Biologie immer mit einer Sechs nach Hause kam, weil der Lehrer immer Filme geguckt hat, die ich nicht verstanden habe, war meine Mutter diejenige, die beim Schulleiter auf der Matte stand und gekämpft hat. Also bildlich und mit Worten, nicht mit Schwert smile. Der Schulleiter hat dann dem Bio-Lehrer verboten Filme im Unterricht zu zeigen. Ich glaube meine Mitschüler haben sich auch darüber gefreut. Prompt wurden meine Noten besser. Ich war immer eine der besten Schülerinnen und habe erfolgreich meinen Realschulabschluss gemacht.

Nachdem ich den Realschulabschluss in der Tasche hatte, wünschte ich auf die gymnasiale Oberstufe zu gehen. Ich wollte die erste in der Familie sein, die Abitur macht. Also meldeten wir mich an und ich wurde auch angenommen, aber direkt am ersten Schultag kam die Schulleiterin zu mir und meinte, dass ich nicht weiter auf diese Schule gehen dürfe, ich solle doch bitte auf die Gehörlosenschule gehen. Ich bin also traurig nach Hause gegangen und was soll ich sagen – meine Mutter hat gefühlt einen Weltkrieg ausgelöst und alles erdenklich Mögliche getan, damit ich auf dieser Schule bleiben kann. Zusammen mit einem Lehrer von der Gehörlosenschule wurde eine Konferenz einberufen und die Lehrer über meine Rechte informiert. Am Ende durfte ich doch auf der Schule bleiben. Es war jedoch eine sehr schwere Zeit, weil gehört habe ich mit meinen Hörgeräten schon fast gar nichts mehr. Ich habe förmlich Jedem an den Lippen geklebt. Ein Hörtest beim Ohrenarzt brachte dann das niederschmetternde Ergebnis „Du bist medizinisch taub!“. Ich wollte das erst nicht glauben, dachte an einen bösen Scherz. Aber dann habe ich mich schnell von einem Cochlea Implantat überzeugen lassen.

Ich setzte die 12. Klasse aus und ließ mich zunächst auf dem rechten Ohr in der MHH operieren. Ausgestattet mit einem Haufen Bücher lag ich dort eine Woche im Bett. An die OP kann ich mich gar nicht erinnern. Nur das ich beim Aufwachen das Gefühl hatte, dass ich total verdreht war. Keine Ahnung, wie man mich unter Vollnarkose auf den OP-Tisch gelegt hat. Danach musste das Ohr erstmal ausheilen und ich kam zur Reha und zum Hörtraining nochmal zurück an die MHH. Anschließend ging ich zu Hause noch eine Weile zu einer Logopädin, mit welcher ich meine Aussprache verbesserte und das Telefonieren übte. Denn bisher war meine Mutter immer das Telefonsprachrohr- naja - aus Bequemlichkeit blieb sie es auch noch eine Weile, und auch heute übertrage ich Telefongespräche lieber auf meinen Mann, als selbst zum Hörer zu greifen. Aber telefonieren kann ich auch gut selber. Manchmal muss man nachfragen, aber das ist für mich kein Problem.

Ich brauchte ca. ein Jahr, um mich an das neue Hörgefühl zu gewöhnen. Ich konnte plötzlich auch wieder hohe Töne hören. Mein Gehirn war damit etwas überfordert. Zunächst klang alles blechern und Mickey-Mouse-artig. Aber mit viel Übung, sowohl bei der Logopädin und selbst, konnte ich dann relativ schnell wieder gut hören. Heute habe ich ein Hörvermögen von ca. 85 %. Dies ist ein relativ hohes Hörvermögen für CI-Träger. In der MHH durfte ich daher freiwillig an Forschungen teilnehmen. Bei einem Hörtest musste ich Musikinstrumente unterscheiden. Sehr knifflig, aber Herausforderungen waren schon immer meins.

Ich wiederholte die 12. Klasse. Ich lernte neue Leute kennen und hatte ein bisschen Angst, weil ich es gewohnt war, abgelehnt zu werden. Aber irgendwie haben mich die OP und das CI selbstbewusster gemacht und ich sagte mir „Entweder die Menschen mögen mich so, wie ich bin, oder sie haben halt Pech gehabt“. Das hat mich im Umgang mit Menschen stärker gemacht und dazu geführt, dass ich selbstbewusster wurde. So konnte ich mich auch durch die letzten Schuljahre kämpfen und machte dann zwei Jahre später Abitur.

Neben der Schule engagierte ich mich ehrenamtlich in der örtlichen Kirchengemeinde. Ich mochte vor allem die Offenheit der Leute dort und dass ich mitmachen konnte, so wie ich bin. Ich bin auch gerne mit zu Freizeiten gekommen. Es gab immer was zu lachen – insbesondere wenn ich statt der Butter den Zucker rübergereicht habe. Die klassischen Verhörer. Diese habe ich auch heute noch und das führt zu dem einen oder anderen Lacher.

In der Kirchengemeinde lernte ich erstmals das sogenannte Zusammengehörigkeitsgefühl kennen. Man wurde so akzeptiert, wie man war und war trotzdem was wert. Sehr gerne arbeitete ich mit meiner Diakonin zusammen. Diese war es auch, welche feststellte, dass mein Hörvermögen sehr schlecht geworden ist. Noch heute erzählt sie gerne die Geschichte von dem zusammenbrechenden Hängeschrank, welchen sie noch retten wollte. Ich sollte natürlich helfen, aber ich stand mit dem Rücken zu ihr und habe ihre panischen Hilferufe nicht gehört, sodass sie am Ende den Schrank aufgeben musste und alles in die Tiefe stürzte. Ich glaube ich habe noch gesagt „Warum hast du mich denn nicht gerufen, ich hätte dir doch geholfen“, nicht wissend, dass sie die ganze Zeit nach mir gerufen hatte.

Nach dem Abitur kam erneut kam die Frage auf, wie es weitergehen soll. Ausbildung oder Studium? Meine Mutter war immer dafür eines nach dem anderen zu machen. So absolvierte ich zunächst eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten. Während der Ausbildung entschied ich mich, auch noch das zweite CI auf der linken Seite zu machen.
Dazu setzte ich nur eine Woche aus. Durch die Erfahrungen mit dem ersten CI wusste ich nun, wie alles abläuft und das Hören lernen auf dem zweiten Ohr ging wesentlich schneller. So konnte ich ohne Probleme meine Ausbildung weitermachen. Diese schloss ich erfolgreich ab.

Nun aber tatsächlich Studium. Schon während der Ausbildung interessierte ich mich für die Dinge, die meine Chefin machte und schrieb. Ich dachte mir „Ach, so eine Klage kannst du auch formulieren“. Ich begleitete meine Chefin auch in den Gerichtssaal und was soll ich sagen? Es hat mich fasziniert und so begann ich mit dem Jura-Studium, ohne mir Gedanken zu machen, wie schwer es werden würde und welche Hürden da noch auf mich zukommen werden.

Ich wechselte den Wohnort. Leipzig sollte es werden, wo ich mich über die zahlreichen Gesetze beugen und diese pauken wollte. Das erste Semester war für mich, auf Grund der Ausbildung, noch recht leicht, aber schon bald wurde es schwerer und schwerer und ich merkte, wie ich Schwierigkeiten hatte, hinterher zu kommen. In den Vorlesungen konnte ich nicht immer alles verstehen, ich ermüdete auch schneller als meine Kommilitonen, sodass ich zu Hause einen erhöhten Vor- und Nachbereitungsaufwand hatte. Zusammen mit einer Freundin, welche auch hörgeschädigt ist, machte ich mich zunächst innerhalb der Juristenfakultät der Universität Leipzig für die Belange Hörgeschädigter stark. Wir sprachen im Professorium über die Belange Hörgeschädigter und informierten die Professoren, wie sie uns helfen und uns das Studium angenehmer machen können. Die meisten Professoren waren da auch echt hilfsbereit und übergaben mir Folien und Lösungen zu Klausuren zum Nachlesen. Später hielten wir für eine andere hörgeschädigte Studentin an der Universität Leipzig einen identischen Vortrag auch noch im Professorium der Mediziner. Dann ging es mit dem Studium weiter und ich begab mich in die Examensvorbereitung. Ich saß vor einem Berg von Dingen, die ich noch lesen und lernen musste. Daneben besuchte ich ein Repetitorium (uniexterner Examensvorbereitungsunterricht). Auf Grund der schieren Stoffmenge war ich gänzlich überfordert. Ich war auch schon über der Regelstudienzeit, sodass ich den sogenannten Freischuss nicht mehr mitnehmen konnte. Unter Freischuss versteht man einen Examensschreibversuch, welcher nicht zählt, sofern man ihn nicht besteht, denn regulär hat man eigentlich nur zwei Versuche. Ich versuchte beim Prüfungsamt zu erreichen, dass ich den Freischuss doch bekommen könnte. Die Antwort war „nein“. Ich gab nicht auf und meldete mich für das erste Examen an. Leider absolvierte ich die erste Prüfung nicht erfolgreich. Mit meinem Mann erstellte ich einen neuen Lernplan.

Gleichzeitig versuchte ich den nicht gewährten Freischuss einzuklagen. In der mündlichen Verhandlung kam es zu einem Vergleich und man gewährte mir den Freischuss. Für mich bedeutete es nun, dass ich noch zwei, statt nur noch einen Versuch hatte. Etwas Ruhe kehrte ein und ich lernte für den zweiten Versuch. Zwei Jahre Karteikarten und Übungsklausuren sollten sich am Ende erfolgreich auszahlen. Ich bestand das erste juristische Staatsexamen. Was soll ich sagen? Ich war mächtig stolz auf mich selber, dass ich den mir selbst ausgesuchten steinigen Weg bis hier geschafft habe. Und ich bin es noch heute. Ich bin die erste in der Familie, die erfolgreich ein Studium abgeschlossen hat.

Während des Studiums begann ich mich auch erstmals mit meiner eigenen Geschichte zu befassen und nahm Kontakt zu hörgeschädigten und gehörlosen Menschen auf. Ich begann die Gebärdensprache zu lernen. Ich lernte neue Freunde und eine neue Sprache kennen. Dies hat mir sehr gefallen und ich treffe mich noch heute gerne mit diesen Freunden.

Direkt nach dem ersten Staatsexamen meldete ich mich für das Rechtsreferendariat an. Weitere zwei Jahre Jura, weitere zwei Jahre lernen. Jedoch durfte ich auch erstmals mein juristisches Wissen auch anwenden. Eine Weile begleitete ich einen Richter am Amtsgericht sowie beim Sozialgericht, war bei der Staatsanwaltschaft und durfte auch selbstständig Sitzungsdienst vornehmen und plädieren. Schließlich begleitete ich einen Rechtsanwalt und durfte endlich meine ersten Klagen schreiben. Was ein tolles Gefühl. Mein Wunsch hat sich erfüllt. Vor kurzem habe ich das zweite juristische Staatsexamen geschrieben und warte nun auf die Ergebnisse.

Ich hoffe, dass ich schon bald meinen Traum umsetzten darf und als Rechtsanwältin Hörgeschädigte und Gehörlose zu ihrem Recht verhelfen kann. Ich glaube, wenn dieser Zeitpunkt eintrifft, dann habe ich alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe.

Danke an alle, die mich auf meinen Weg begleitet, gestärkt und für mich da waren, insbesondere meine Mutter, die immer für mich gekämpft hat wie ein Bär.

Sie haben Fragen zu meinem Werdegang? Dann dürfen Sie sich gerne melden unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Mareike Drygala
Juli 2019