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Ein ganz normales i-Dötzchen

Von Susanne

Nach den Sommerferien 2019 wird unser sechsjähriger Sohn eingeschult. Wir sind alle sehr aufgeregt und freuen uns auf den Tag. Wir werden auf dem Schulhof der Grundschule stehen, die Schultüte in der Hand, während unser taub geborener Großer zusammen mit den anderen i-Dötzchen freudig kreischend die Spielgeräte umtobt. Wenn zwischendurch eine seiner beiden CI-Spulen abfällt, wird er sie beiläufig wieder dran setzen und seinen Freunden weiter hinterher rasen.

Sobald wir ihm dann zurufen, dass wir uns auf den Heimweg machen müssen – zu Fuß, denn es ist die Regelgrundschule vor Ort – wird er vielleicht folgsam zu uns kommen. Wahrscheinlicher ist aber, dass er uns erstmal eine Weile gekonnt ignorieren wird. Es sei ihm gegönnt.

Alles ist gut. Heute. Der Weg bis hierhin war steinig, zermürbend, anstrengend, aber auch voller schöner Erfahrungen.
Auf diesem Weg gab es viele Begegnungen, die wir mit einem hörgesunden Kind so nie gehabt hätten. Negative und ärgerliche bis unverschämte, die einen fassungslos zurück lassen, aber auch sehr positive und vor allem solche, die wir sehr lieb gewonnen haben und nicht mehr missen wollen.

Da war der HNO Professor einer Klinik, der uns nach zig BERAs und sonstigen Tests mit unserem gut zwei Monate altem Baby die Diagnose zwischen Tür und Angel mit den Worten überbrachte „Ihr Kind ist stocktaub, kommen Sie in einem Jahr wieder, dann kriegt er ein CI“ und es dann sehr eilig hatte, durch die Tür zu entschwinden, ohne weitere Fragen zu beantworten „Machen Sie einen Termin mit der CI-Sprechstunde aus“. (Wir sind nicht in dieser Klinik geblieben.)

Da war die selbst ernannte CI-Expertin und erklärte CI-Gegnerin, die sich zwei Tage vor der ersten Implantation eindringlich bemühte, mich mit fragwürdigen Argumenten („bei CI-Kindern hat man immer größte Schwierigkeiten, einen Gebärdendolmetscher für die Schule durchzusetzen“ „gebärdende Kinder sind doch sooo niedlich!“) und Fehlinformationen („nur ein Drittel lernt überhaupt sprechen mit CI“) von der Operation abzubringen.

Da war der Vertreter der Krankenkasse, der während eines Gerichtstermins süffisant darauf hinwies, die Kasse habe ja schon die teuren CIs gezahlt, jetzt auch noch das Aqua Kit zu wollen, stelle eine völlig überzogene Anspruchshaltung dar (die Kasse musste den Anspruch unseres Sohnes schließlich anerkennen).

Da war aber auch die selbst hörgeschädigte Tagesmutter, die unseren Sohn liebevoll betreute und seine sprachlichen Entwicklungsschritte von der Gebärdenzeit bis in die Lautsprache mit Sachverstand begleitete.

Da war die fabelhafte Pädakustikerin, die sich seit der Hörgerätezeit einfühlsam und zugewandt um uns und unser Kind kümmerte, und die vor allem den Kontakt zu einem weiteren gleichaltrigen Hörgerätekind aus unserer Nachbarschaft herstellte, als unser Sohn 9 Monate alt war.

Da war eben jenes weitere Hörgerätekind, das jetzt der eine beste Freund unseres Sohnes ist, und dessen Eltern inzwischen unsere Freunde sind.

Da war das weitere gleichaltrige CI-Kind, dessen Familie wir über die Frühförderstelle kennengelernt haben, und das jetzt der andere beste Freund unseres Sohnes ist. Das unfassbarerweise ebenfalls in unserer Stadt wohnt, mit dem unser Sohn zusammen in einen örtlichen Kindergarten geht, und dessen Eltern ebenfalls unsere Freunde geworden sind.

Da sind die vielen anderen CI-Kind-Familien, deren Bekanntschaft wir in den letzten Jahren machen durften, und mit denen wir in regelmäßigem Austausch stehen.

Ich würde mir wünschen, dass all jene, die mit einem schwer hörgeschädigten Kind noch am Anfang stehen, die Möglichkeit haben, mit „alten Hasen“ in Kontakt zu treten, sie zu treffen, um zu sehen, dass die schreckliche erste Zeit vorbei geht. Denn unsere erste Zeit nach der Erkenntnis, dass unser Kind taub ist, war geprägt von großer Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Aufgrund der seltenen Diagnose AN/AS (auditorische Neuropathie/Synaptopathie) war zunächst nicht klar, ob womöglich zumindest zeitweise doch Hörvermögen da ist, das für die Sprachentwicklung genutzt werden könnte. Dadurch zog sich die Zeit bis zur CI-Entscheidung länger hin.

Außerdem hieß es, dass die Gefahr, dass ein CI nicht wie gewünscht funktioniert, bei dieser Diagnose höher sei als bei „normaler“ Taubheit. Der Gedanke, dass ich womöglich nie die Stimme meines Kindes hören würde, die „Mama“ zu mir sagt, war kaum zu ertragen.

Ich las alles zur Kommunikation mit hörgeschädigten Kindern und deren Förderung, was ich finden konnte, informierte mich über AN/AS, CI und Sprachentwicklung, ich machte mich schlau über die Möglichkeiten der Förderung, Therapie und Finanzierung, befasste mich mit den Themen Gehörlosengeld, Schwerbehindertenausweis, Steuererleichterungen, Nachteilsausgleiche und Eingliederungshilfe, ich stritt ich mit der Krankenkasse und dem Versorgungsamt.

Als unser Sohn 9 Monate alt war, hatten wir angefangen, Gebärden zu lernen, um frühzeitig mit unserem Kind kommunizieren zu können und um einen Plan B zu haben, falls das CI nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Aus verschiedenen Gründen hatten wir privat eine Frühförderin beauftragt, die unseren Sohn parallel lautsprachlich und gebärdensprachlich förderte.

Wir haben einfach mitgelernt und uns über Apps und Bücher Gebärden angeeignet. Wir sprachen unseren Sohn lautsprachlich an und gebärdeten parallel oder verwendeten erst die eine, dann die andere Sprache. Es klappte super, unser Sohn lernte schnell und hatte im Alter von einem Jahr einen aktiven Wortschatz von über 100 Gebärden. Aber er lautierte nicht, er sprach nie ein einziges Wort.

Dann kam die erste CI-Operation und im Alter von 17 Monaten die Erstanpassung. In den Tagen darauf zeigten wir unserem Sohn alles, was Geräusche macht. Er konnte gar nicht genug davon bekommen. Zwei Wochen nach der Erstanpassung hörte ich von ihm die ersten bewusst artikulierten Laute. Er sagte a-a-a-a-a. Diesmal weinte ich vor Freude.

Zehn Wochen nach der Erstanpassung sagte er das erste Mal (sichtlich stolz) „Eieieieiei!“. Und ab da gab es kein Halten mehr. In einem rasenden Tempo durchlief unser Sohn die einzelnen Stationen der regulären Sprachentwicklung. Wir begleiteten all unser Tun lautsprachlich, erläuterten immer was wir taten, was zu sehen und zu hören war, badeten ihn in einem wahren Sprachbad, um die Lautsprachentwicklung zu fördern und ihm die Möglichkeit zu geben, so schnell wie möglich aufzuholen.

Im Alter von knapp zwei Jahren folgte das zweite CI. Als unser Sohn mit zweieinhalb Jahren in den Regelkindergarten kam, hörten wir mit der gebärdensprachlich orientierten Frühförderung auf, weil allen klar war, dass er das nicht mehr brauchte. Er schaute einfach nicht mehr hin, wenn gebärdet wurde, und gebärdete auch selbst immer weniger. Stattdessen wurde ihm bescheinigt, sprachlich so weit zu sein wie Gleichaltrige.

Inzwischen ist unser Sohn fast ein Schulkind und führt ein fröhliches und entspanntes ganz normales Kinderleben. Er kickt Bälle mit seinen Freunden, ist bei der Feuerwehr, hat das Seepferdchenabzeichen gemacht, fährt Fahrrad, liebt Klettern, Autoscooter, Plastikrutschen und Bällebäder (ja, die 20 Minuten, die wir auf der Suche nach einem der Prozessoren im Bällebad vom Smaland verbracht haben, waren weniger lustig), hört am liebsten „Die drei Fragezeichen“ oder „Was ist Was“ als Hörspiel und lässt sich „Mio, mein Mio“ und „Ronja Räubertochter“ vorlesen. Er redet sehr gerne, hat dabei eine erstklassige Aussprache, eine hohe Sprachkompetenz und verwendet den Genitiv und den Konjunktiv. Er hat sich weitgehend selbst die Anfänge des Lesens beigebracht. Er ist sehr wissbegierig, fragt und hinterfragt viel. Wir können uns großartig unterhalten und auch abstrakte oder komplizierte Dinge tiefergehender besprechen, wie es mir in der Gebärdensprache wohl nie möglich gewesen wäre.

Ich bin so unendlich froh, dass CIs möglich waren und so gut funktionieren. Unser Sohn konnte so über das Hören auf natürlichem Weg und ohne besonderen Aufwand die Lautsprache lernen. Er kann entspannt mit anderen Menschen kommunizieren. Er kann entscheiden, ob er hören möchte oder nicht. Ich bin froh, dass wir ihm durch die frühzeitige Implantation diese Freiheit ermöglicht haben. Bei einer späteren Implantation erst nach der sprachsensiblen Phase (z.B. wenn er das selbst hätte entscheiden können) wäre diese Chance auf den natürlichen Erwerb der Lautsprache für immer vertan gewesen. Mit dem Wissen von heute hätte ich rückblickend lieber früher implantieren lassen und uns einen Teil der Zeit der Trauer und Sorge erspart.

Susanne
Juli 2019