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Bauchgefühl

Von Tina

Unsere Zwillingsmädchen kamen im Juni 2015 in Heidelberg zur Welt. Ich durfte eine wundervolle Schwangerschaft und Geburt genießen und wir waren überglücklich, dass unsere Mädchen nun endlich bei uns waren.

Das Neugeborenen-Hörscreening war bei Emilia auffällig. Am dritten Tag durften wir bereits das Krankenhaus verlassen und bei der U2 wurde nochmals das Screening wiederholt. Der Befund war der gleiche. Uns wurde erklärt, dass meist Fruchtwasser der Auslöser für den Befund sei, wir sollten uns keine großen Sorgen machen.

Ein Kontrolltermin wurde für die siebte Lebenswoche empfohlen. Wir wohnten in Mannheim und da ich die Zwillinge gestillt habe, wurde uns die Option genannt, die Kontrolle bei einem niedergelassenen HNO-Arzt in der Nähe durchführen zu lassen, statt nochmal extra nach Heidelberg in die Klinik fahren zu müssen.

Zu dem Zeitpunkt war dies für uns die beste Möglichkeit, denn wir konnten den Termin mit einem Spaziergang verbinden und mein Mann konnte mich begleiten. Damals wussten wir nicht, dass dies ein absoluter Fehler war. Die Kontrolle bei der niedergelassenen HNO-Ärztin ergab: EMILIA KANN HÖREN! Wir waren erleichtert und glücklich! Die Ärztin sagte nach der Untersuchung: „Natürlich hört sie, schließlich hat sie eine hörende Zwillingsschwester“.

Die Mädchen entwickelten sich altersentsprechend und Emilia bewegte sich im Rhythmus. Sie strahlte, wenn man ihr etwas vorgesungen hat, schlief auf dem Arm bei Gesang ein und war ein fröhliches kleines Mädchen. Die ersten Laute von ihr waren „Ara“. Den ganzen Tag hatte sie unglaublich viel Freude daran, die neuen Laute in verschiedenen Tonlagen und Lautstärken zu plappern.

Mit 10 Monaten stellten wir das erste Mal die Diagnose der HNO-Ärztin in Frage. Emilia krabbelte weinend im Flur und suchte nach mir. Ich stand direkt hinter ihr, habe sie mehrmals laut gerufen und sie reagierte nicht. An der Ärztin zu zweifeln, fühlte sich im ersten Moment nicht richtig an. Dennoch wollten wir auf Nummer Sicher gehen und machten einen Kontrolltermin.

Es folgten mehrere Gespräche mit verschiedenen Ärzten, doch wir hörten immer das gleiche: „Machen Sie sich keine Sorgen. Es sind Ihre ersten Kinder und man ist meist etwas ängstlich“, „Vergleichen Sie die Mädchen nicht, jede entwickelt sich anders“, „… aber ihre Zwillingsschwester kann hören – es ist alles gut“.

Wir zweifelten an uns selbst – doch irgendwie hatte ich immer wieder „dieses“ Bauchgefühl.

Durch unseren Umzug in meine Heimat in der Nähe von Darmstadt, wechselten wir auch den Kinderarzt. Da ich meine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten bei einem Kinderarzt gemacht habe, wollten wir uns bei ihm vorstellen. Die Mädchen waren mittlerweile ein Jahr alt und bei der U6 wurden wir „mal wieder“ als zu empfindlich hingestellt. Der Vorschlag eine Kontrolle in der Klinik machen zu lassen, wurde von meinem ehemaligen Chef abgelehnt. Wir bekamen keine Überweisung. Auch dass Emilia nicht lautierte und außer „ara“ keine Laute kamen, änderte an der Entscheidung des Arztes nichts. Wir sollten warten, bis sie 2 Jahre alt ist.

Wir wechselten erneut den Kinderarzt und wurden mit unseren Sorgen ernst genommen. Schnell bekamen wir einen Termin in der Uniklinik Frankfurt und dann ging es Schlag auf Schlag. Die BERA ergab, dass Emilia an Taubheit grenzend schwerhörig sei. Die Welt um uns herum zerbrach. Mein Bauchgefühl hatte sich bestätigt und niemand hatte uns ernst genommen.

Nach vielen Gesprächen und Recherchen war für uns klar – unser Kind soll hören können. Recht schnell bekamen wir einen OP-Termin für Emilia und es war die beste Entscheidung, die wir für uns treffen konnten.

Emilia wurde in einer 7-stündigen Operation beidseits mit Cochlea Implantaten (CI) versorgt, die Erstanpassungen verliefen sehr gut und unsere Tochter zeigte recht schnell erste Reaktionen. Wir besuchten regelmäßig das CIC Friedberg und sind unglaublich dankbar für die Möglichkeit eines CI’s. Es gibt gute und weniger gute Tage. Wir haben aber schnell gelernt damit umzugehen und wissen, wo Emilias Grenzen sind. Sie hört gerne Musik und tanzt, ist im Schwimm- und Turnverein und spricht mittlerweile altersentsprechend.

2021 sollte Emilia eingeschult werden. Da sie im Juni Geburtstag hat, hätte sie gehen müssen. Unser Bauchgefühl sagte uns aber, es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Die Meinung der Erzieher*innen bestätigte uns und wir haben Emilia, sowie ihre Zwillingsschwester zurückgestellt.

So hatte sie noch Zeit, um sich weiterzuentwickeln und wir konnten in Ruhe die passende Schule für sie aussuchen. Wir haben uns über die Möglichkeiten der verschiedenen Schule informiert. Hatten eine Hospitation in der Schule für hörgeschädigte Kinder, waren bei der Montessori Schule und führten Gespräche in der Grundschule bei uns im Ort.

Auch hier haben wir ganz arg auf unser Bauchgefühl gehört und Emilia besucht seit Sommer 2022 die Regelgrundschule. Wir haben eine Teilhabeassistenz (THA), die Emilia während des Unterrichts unterstützt und das klappt super. Die Lehrer*innen nutzen die Übertragungsanlage und seit zwei Wochen werden Handmikrofone in der Klasse eingesetzt.

Natürlich ist der Schulalltag für Emilia anstrengend und eine Umstellung, aber wir haben unseren Tagesablauf und die Freizeitaktivitäten so angepasst, dass es ihr guttut. Sie ist glücklich mit ihren Freunden und ihrer Schwester die Regelschule besuchen zu können. Die VoMa (Vorbeugenden Maßnahmen) der Schule am Sommerhoffpark Frankfurt betreut unsere Grundschule und steht uns als auch den Lehrkräften jederzeit zur Verfügung. Wir haben schon nach kurzer Zeit ein sehr gutes Verhältnis zur THA und wissen, Emilia ist in der Schule und bei allen Beteiligten sehr gut aufgehoben.

Rückblickend können wir jedem nur empfehlen, immer auf das eigene Bauchgefühl zu hören. Auch wenn wir zu Beginn unserer Hörreise einige schlechte Erfahrungen sammeln mussten, sind wir jetzt umso dankbarer für alles was für Emilia getan wurde/wird.

Tina
November 2022