Niemals aufgeben...
Von Sarah Felten
Mein Name ist Sarah Felten, ich bin 27 Jahre alt und komme aus Leipzig. 1997 kam ich als Frühchen zur Welt und hatte somit schon einen schweren Start ins Leben gehabt. Lange lag ich auf der Neonatologie, hatte keine Kraft Muttermilch zu trinken und so erhielt ich eine Magensonde, wo dann die Milch reingespritzt wurde. Am Kopf hatte ich eine Blutbeule, die wohl regelmäßig von der Pflege aufgestochen wurde. Ich wurde dann irgendwann mit dem Zubehör für die Magensonde entlassen, d.h. meine Mutti musste mir selbst die Sonde einführen und dabei richtig abmessen. Für die Kinderärztin war das damals ein Unding.
Da ich mein Köpfchen nicht heben konnte, erhielt ich Vojtatherapie. Bestimmte Stellen des Körpers mussten gedrückt werden, damit ich irgendwann auch in der Bauchlage mein Köpfchen heben konnte. Das alles gelang mir glücklicherweise, wenn auch sehr langsam.
Irgendwann stellte man fest, dass ich nichts höre. In der Universitätsklinik Leipzig folgten Tests, die meine Hörfähigkeit überprüfen sollte. Aus den Erzählungen meiner Mutter war ich in einem Raum mit zwei Lautsprechern und vor mir fuhr eine Eisenbahn im Kreis herum, die ich mit meinen Augen verfolgte. Da ich nicht auf die Lautsprecher reagiert habe, war die Ärztin davon überzeugt, dass etwas mit mir im Kopf nicht stimmen sollte.
Im Wartezimmer vor den Patienten sagte sie zu meiner Mutti: "Wir sind uns nicht sicher, ob etwas mit dem Kopf ihres Kindes nicht stimmt. Sie muss zum Neurologen. In Dresden gibt es eine Sprechstunde für Cochlea Implantate." Die Ärztin drückte meiner überforderten Mutti den Überweisungsschein in die Hand und ging fort.
Meine Mutti wusste natürlich nicht, was ein Cochlea Implantat ist, und so sah sie in einem Einkaufszentrum ein kleines Mädchen mit einem silbrigen Gestell auf dem Kopf plus einer Antenne. "Wenn das ein CI sein soll, dann tut mir meine Kleine leid.", dachte meine Mutti.
In Dresden wurde das alles natürlich aufgeklärt und es fanden auch die Voruntersuchungen statt. Es war offiziell klar, dass eine beidseitige Taubheit besteht und ich nun Kandidatin für ein Cochlea Implantat war. 1999 wurde ich auf einer Seite implantiert. Eine bilaterale Versorgung war damals nicht möglich gewesen.
Bei der Erstanpassung im CI-Zentrum wurden meine Augen größer, ich reagierte in der Anpassung auf die Geräusche und von da an sah ich die Welt mit anderen Augen. Es ist, als hätte man einen Schalter umgelegt.
Früher trug ich noch einen Kasten am Rücken mit zwei Bändern, die den Kasten fixiert haben. Das war damals mein erstes CI von MED- EL.
Während der nächsten Reha kam Mama ins Staunen, als sie zwei Mädchen sah mit dem Tempo+. Das erste HdO-CI ganz ohne Kasten. Das erhielt ich damals dann auch und war damit ein sehr zufriedenes Kind. Jedes Wochenende ging es mit dem Zug zur Therapie bei Frau Lemke nach Radebeul bei Dresden. Ich mochte als Kind die Therapie beim Herrn Hartmann im SCIC Dresden noch mehr. Ich höre jetzt noch sein herzliches Lachen und die Freude, wenn ich kam. Er war das Highlight meiner Therapie zur Reha. Zu Hause hatte ich natürlich auch regelmäßig Therapie. Meine Mutti hat wahnsinnig viel für mich geleistet. Eine weitere Stütze waren Oma und Opa - sie waren meine Therapeuten, wenn Mutti auf Arbeit war. Diese Geschichte hat meine Oma und mich sehr zusammengeschweißt. Dank Oma kann ich hören und sprechen!
Das Ziel der Therapie war auch, dass ich vor Schuleintritt fließend das Lesen beherrschen konnte, um über das Lesen, auch das Sprechen zu lernen, dem Konzept der Auditiv-Verbalen Therapie. Heute bin ich eine Leseratte und schreibe ebenso sehr gerne. Ich war nie auf einer Hörgeschädigtenschule, meine Mutti wollte das aus pädagogischer Sicht nicht. Sie selbst ist Lehrerin und da ich aus einer Lehrerfamilie komme, war das irgendwie ganz klar, dass die Regelschule meine Option ist. Damit hatten sie Recht behalten, denn ich war eine sehr gute Schülerin gewesen und ich habe sogar auf dem Gymnasium neben Englisch auch noch Spanisch gelernt.
Mobbing war dennoch ein Thema gewesen. Vieles weiß ich nicht mehr so genau. Ich weiß nur, dass meine Stimme nachgeäfft wurde, einfach, weil sie für Kinderohren anders klang. Für Erwachsenenohren würde ich angeblich normal sprechen. Heute sagt man mir nicht mehr, dass ich komisch sprechen würde. Man würde es mir nicht anmerken.
2014 entschloss ich mich zur zweiten Implantation und da kann ich sehr klar sagen, dass es die beste Entscheidung gewesen ist. Mit zwei CI's hört es sich einfach viel vollkommener an. Die Operation war nicht schwer, dafür hatte ich aber postoperative Schmerzen gehabt. Heute sind meine beiden CI's eine tolle Einheit und damit nicht mehr aus dem Leben wegzudenken.
Als ich nach der Operation wieder zurück in die Klasse kam, stand eine Klassenarbeit an im Spanischunterricht. Meine Mutti schrieb damals der Klassenlehrerin einen Brief, weil ich im Krankenhaus nicht für den Spanischtest lernen konnte und das somit nicht mitschreiben könne. Sie bat, mir Zeit zu geben, um den Stoff nachzuarbeiten,um dann die Arbeit zu schreiben.
Die Klassenlehrerin fühlte sich angegriffen und tat damit das Unpädagogischste, was man einer Schülerin antun konnte. Vor der Klasse las sie den Brief vor und sagte:" Dich unterrichte ich nicht mehr!" Ich weiß noch, wie ich dann auf dem Flur stand und auch da weiß ich nicht mehr, was danach geschah. Ich wurde krankgeschrieben und wechselte die Schule auf die Freie Rahnoberschule Leipzig. Für zwei Jahre ging ich dort zur Schule und habe eine ganz tolle Klassenlehrerin erleben dürfen, die sich für mich eingesetzt und dafür gesorgt hat, dass ich in der Klasse eine Integration erfahren durfte. Ich absolvierte dort einen sehr guten Realschulabschluss.
Beruflich wurde es dann schwieriger. Erst begann die Findungsphase, wo ich mich denn beruflich verwirklichen könnte und da gab es Arbeitgeber, die für sich schon ausgeschlossen haben, eine Hörgeschädigte zu beschäftigen. Irgendwann entschloss ich mich für die Pflegeausbildung zur Pflegefachfrau.
Ich mochte die Ausbildung sehr, die Arbeit mit den Patienten bereitete mir viel Spaß, ich war in der Pflegeschule Klassenbeste gewesen, aber es gab auch eine dunkle Seite in der Pflege. Ich sehe sie noch vor mir stehen 》 Die strenge grimmig dreinguckende Oberschwester mit kurzen schwarzen Haaren《 und höre sie noch den folgenden Satz sagen: „Ich kann und werde niemals verstehen, wie man Hörgeschädigte in der Pflege beschäftigen kann. Du wirst nicht weit kommen bzw. sehe ich dich nicht hier im Pflegeberuf."
Diese Worte trafen direkt mein Herz, Tränen kamen und ich versuchte mich rechtzufertigen. Wir stehen mitten im Schwesternzimmer und waren auf Konfrontationskurs. Weitere Schwestern und ein Arzt kamen rein und liefen unbeteiligt an uns vorbei. All das tat weh!
Ich beschwerte mich bei der Schulleitung über die Situation und auch darüber, dass sie die anderen Pflegeschüler bevorzugte, was das Lernen von neuen pflegerischen Maßnahmen betraf. Ich setzte meine Arbeit fort und dachte mir nur noch, dass ich noch wenige Wochen auf der Station bin und hoffte einfach darauf, dass es auf der nächsten Station besser wurde. Auf der nächsten Station in der Urologie war es total schön. Dort hatte ich nette Patienten und ein sehr nettes Team. Sie respektierten mich und meine Arbeit. Fragen konnte man immer, wenn man etwas wissen wollte. Eine Praxisanleiterin kam eines Tages auf die Station und führte eine Anleitungsstunde mit mir durch. Ich sollte eine pflegerische Maßnahme an einem Patienten vorführen, was mir aber zu dem Zeitpunkt keiner gezeigt hat. Da ich lernbegierig bin, wäre das alles kein Problem gewesen. Für sie war damit klar, dass ich nicht für die Pflege geeignet wäre, einfach weil ich ihrer Meinung nach den gewünschten Ausbildungsstand nicht erreicht hätte. "Das kann nicht so weitergehen. Es muss hier etwas passieren!", sagte sie und wollte meine Meinung dazu nicht wissen. Sie ließ mich mit Tränen zurück.
Im Schwesternzimmer wurde ich von einer älteren Schwester umarmt und getröstet. Sie sagte, dass ich ihrer Meinung nach wirklich viel leiste und sehr fleißig bin. Sie könne die Praxisanleiterin ebenso nicht verstehen. Irgendwann hatte ich frei und somit auch Urlaub. Am letzten Urlaubstag erhielt ich einen Anruf von der Schule. „Kommen Sie morgen vorbei! Wir würden gern über Ihren weiteren Ausbildungsverlauf sprechen.", sagte die damals neue Schulleiterin am Apparat.
Gesagt getan ging ich in die Schulleitung. Dort empfangen mich die Schulleiterin und die stellvertretende Pflegedienstleiterin. Ich höre die Schulleiterin sagen: „Wir von der Schule aus haben beschlossen, dass Sie gekündigt sind."
Meine Beine wurden zu Pudding, mir wurde heiß/kalt und die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Die Schulleiterin schaute mich triumphierend an, als freute sie sich darüber. Schnurstracks verließ ich die Schulleitung und blickte zum Krankenhaus. „Das war es wohl? Aus der Traum? Aus die Maus?", dachte ich.
Ich wischte innerlich den Gedanken beiseite und dachte mir, dass ich mich bei einer höheren Instanz beschweren sollte. Da fiel mir die Krankenhausleitung ein. An der Rezeption fragte ich tränenüberströmt und innerlich zitternd nach dem Klinikchef. "1. Etage Anästhesiologie, 1. Tür wenn Sie reinkommen...", murmelte die Rezeptionistin gelangweilt und so ging ich zum Klinikchef. Eine Sekretärin empfing mich.
"Der Chef ist noch im OP. Dauert noch 30 min. Wollen Sie ein Glas Wasser?", fragte die Sekretärin besorgt. Über eine halbe Stunde später blickte die Sekretärin nochmal rein und meinte: „Der Chef ist da. Er erwartet Sie jetzt hinter dieser Tür."
Ich erzählte dem Klinikdirektor von mir, meiner Hörschädigung und darüber, dass ich grad eben vor fast einer Stunde gekündigt wurde. Ungläubig schaute er mich an und auf meine Kündigung, war sehr bestürzt über meinen Fall und meinte, dass er sich mal mit der Schule in Verbindung setzen wird. Das tat er auch.
Er schrieb mir zwei Tage später eine lange Mail mit einer großen Entschuldigung und dass er inoffiziell nun weiß, dass man mich in der Schule nicht weiterbehalten wollte, weil ich CI- Trägerin bin und es sich eindeutig um eine Diskriminierung zu meiner Persönlichkeit handelt. Endlich hatte ich es schwarz auf weiß stehen, dass das Problem wie so oft meine Hörbehinderung gewesen war.
Er betonte in seinem Schreiben außerdem auch, dass er in mir eine starke junge Frau sieht, die sehr sprachgewandt ist. Er hätte meine Hörbehinderung nicht gemerkt, wenn ich ihm das nicht unter die Nase gerieben hätte.
Ich konnte nie die Finger von der Medizin lassen. Ein medizinischer Beruf, in dem man Menschen helfen und versorgen kann, war schon immer mein Traum gewesen. Ich bin froh, dass ich diesen Traum nie aufgegeben habe. Derzeit bin ich auf der kinderonkologischen Ambulanz als Azubi zur MFA tätig und freue mich auf die neue Lebensaufgabe. Die Arbeit mit Kindern lag mir schon immer sehr.
Ich war früher ehrenamtliche Übungsleiterin im Schwimmsport gewesen und habe Kinder im Leistungssport unterstützt. Dort mochten die Kinder mich sehr und freuten sich riesig, wenn ich da war.
Mit meiner Geschichte will ich damit sagen, dass man als CI-Trägerin die Träume nicht aufgeben sollte. Egal ,wie schwer eine Lebenssituation auch ist, findet sich irgendwo immer ein Weg. Das Alter ist relativ, was man wann genau tut, denn der Werdegang ist einfach wichtiger. Die Zeit ist unser Lehrmeister und man kann sich nun mal nicht immer an Vorgaben und Erwartungen der Gesellschaft halten. Das wäre auch unrealistisch.
Ich bin nebenbei auch noch Leiterin einer deutschlandweiten Selbsthilfegruppe für CI-Träger auf Facebook "Leben mit der Taubheit" und auf Instagram @hoervisionen_by_sarah. Folgt mir da sehr gerne!
Mit viel Leidenschaft setze ich mich für Hörgeschädigte ein, gerade einfach weil sie erfahrungsgemäß gesellschaftlich benachteiligt sind und vieles ertragen müssen. Ich will den Hörgeschädigten ein Gesicht geben, damit sie den Wert in sich und ihrer Persönlichkeit sehen können und weiterhin der Überzeugung sind, dass sie viele Dinge beherrschen können. Durch meine Gruppe habe ich tolle Menschen kennengelernt und möchte das nicht mehr missen.
Außerdem betreibe ich ein Herzensprojekt in Tunesien mit einer tunesischen Hörgeschädigtenschule auf Djerba. Für diese Schule sammle ich deutschlandweit Spenden (nicht mehr benutzte Hörgeräte oder CI- Zubehör) und bringe sie in die Schule. Mit der Schulleiterin der Schule und der Tourismuspräsidentin von Djerba bin ich in freundschaftlichem Kontakt.
Ich führe außerdem auch in regelmäßigen Abständen Experteninterviews durch mit ausgewählten Ärzten und Therapeuten. Betroffene werden natürlich auch interviewt. Jede Hörbiografie zeigt eine Individualität. Daraus schöpfen die Nutzer meiner Selbsthilfegruppe viel Kraft. Das ist viel wert!
Meine Geschichte zeigt, dass man kämpfen muss und nicht aufgeben darf. Irgendwann findet man auch den richtigen Platz, wo man auch hingehört.
Sarah Felten
Juni 2024