Und plötzlich einseitig taub
Von Julia W.
Ich bin 29 Jahre alt und kann mich noch wie heute an den 20. April 2022 erinnern. Es war ein gewöhnlicher, sogar eher ruhiger Arbeitstag, in dem sonst sehr stressigen Job als Produktentwicklerin. Ich hatte den Job erst Anfang März gestartet. Gegen 14 Uhr bekam ich auf meinem rechten Ohr ein Piepsen und das Ohr fuhr herunter. Erst hörte ich wie durch ein altes Grammophon und dann gar nichts mehr. Außerdem hatte ich ein Gefühl von Watte im Ohr. Ich habe dann bei einem HNO-Arzt angerufen, der mittwochs nachmittags noch geöffnet hatte. Leider habe ich erst einen Termin für den nächsten Tag am Nachmittag bekommen. Nach dem Anruf bin ich dann wieder in das Büro gegangen und ich merkte, wie die Wörter meiner Kollegin nur schwer zu mir durchdringen. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Zu diesem Zeitpunkt war mein rechtes Ohr dann komplett taub.
Ich beschloss Feierabend zu machen und nach Hause zu fahren, um mich auszuruhen in der Hoffnung, dass es schnell wieder besser werden würde. Auf der Heimfahrt wurde mir allerdings klar, dass dieser Hörsturz anders ist als der, den ich vor ein paar Monaten schon einmal hatte. Ich musste mich stark beim Fahren auf die Straße fokussieren, was mir sehr schwer viel.
Ich entschied mich auf der Fahrt direkt zum ärztlichen Bereitschaftsdienst zu fahren. Doch auf dem Parkplatz angekommen, merkte ich, dass ich nicht mehr allein aus dem Auto aussteigen konnte, weil mir zu schwindelig war. Mein Freund kam dann und hat mich direkt in die Notaufnahme des Klinikums begleitet. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Geräusch- und Stimmwahrnehmung komplett verzerrt war.
Die Ärztin in der Notaufnahme diagnostizierte Lagerungsschwindel, weshalb sie dies mit einem Manöver in den Griff bekommen wollte. Das löst bei mir sehr starken Schwindel, Übelkeit und Erbrechen aus. Ich kam dann in der Nacht auf die HNO-Station. Ich habe auf der HNO-Station sechs Tage lang Cortisoninfusionen bekommen, die aber mein Hörvermögen nicht zurückbrachten. Der Schwindel und die Übelkeit blieben noch einige Tage. Selbst am Tag der Entlassung konnte ich das Krankenhaus nur im Rollstuhl verlassen und auf der Heimfahrt mit dem Auto wurde mir wieder übel. Danach wurde es noch mit einer intratympanalen Kortikoidtherapie versucht. Dabei wird Kortison durch das Trommelfell direkt in das Mittelohr gespritzt. Aber auch das brachte mein Hörvermögen nicht zurück.
Die Wochen nach dem Klinikaufenthalt probierte ich noch andere Therapien, um das Hören wieder zurückzubringen: Akupunktur, Osteopathie und Nahrungsergänzungsmittel. Außerdem trug ich, um mein rechtes Ohr zu schützen, immer einen Ohropax. Irgendwann Mitte Mai kam ein sehr minimales Geräusch an meinem Ohr zurück, wenn ich an meinem Ohr kratzte. Doch ich war immer noch taub, was auch die zahlreichen Hörtests in dieser Zeit bestätigten.
Ich testete mich dann an einem Cross-Hörgerät. Anfangs war es ungewohnt damit zu hören, weil sich alles wie aus einem Lautsprecher anhörte. Ich kam einigermaßen damit klar, aber ich habe schnell gemerkt, dass mein linkes Ohr damit schnell überlastet ist, da es nun alle Höreindrücke verarbeiten musste.
Im August 2022 vereinbarte ich dann mit dem Klinikum Fulda meinen OP-Termin. Die OP fand im Oktober statt. Ich weiß es noch, wie heute, dass ich auf dem Zimmer zur OP abgeholt wurde. Nachdem die OP vorbei war, wurde ich erstmal in ein Einzelzimmer gebracht und dort konnte ich dann auf mein Handy schauen und habe gesehen, dass meine Schwester mir eine Nachricht geschrieben hatte und mir mitteilte, dass sie ihr Baby bekommen hat. Da ging es mir dann direkt besser, obwohl ich noch von der OP benebelt war. Meine Freude musste ich dann erstmal direkt mit der anwesenden Krankenschwester teilen. Der Arzt kam vorbei und teilte mir mit, dass während der OP alles gut verlaufen sei. Dann wurde ich auf ein Zimmer gebracht, wo auch eine Frau in meinem Alter lag, die einen Tag zuvor am Ohr operiert wurde. Ich habe mich so gefreut, dass ich zu ihr ins Zimmer kam, da ich sie schon von den vorstationären Untersuchungen kannte.
Um ehrlich zu sein, kann ich mich gar nicht mehr so viel an die Schmerzen erinnern. Ich glaube aber, dass ich Schmerzen hatte und auch mein Tinnitus auf dem rechten Ohr nochmal so richtig Gas gab. Auch das Schlafen fiel mir schwer, da durch den Druckverband am Kopf die Beweglichkeit etwas eingeschränkt war. Nach drei Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen.
Die Erstaktivierung meines CIs war gut vier Wochen später nach der OP. Dafür fuhr ich wieder ins Klinikum Fulda und der Mitarbeiter der CI-Firma schaltet das CI bei mir ein. Alle Elektroden funktionierten. Ich weiß noch ganz genau, dass sich die ersten Eindrücke anhörten wie ein Glockenspiel mit 12 Tönen. Das war sehr ungewohnt und viel für mich.
Ab diesem Tag übte ich täglich fleißig mit Apps und dann auch ab Dezember in der Logopädie das neue Hören. Außerdem war ich mir sicher, dass ich noch eine Reha machen wollte, die ich im Dezember beantragte und für die ich dann im Februar 2023 die Zusage bekam. Doch leider sollte es noch bis Juli 2023 dauern, bis ein Platz für mich frei war.
Schließlich ging es für mich Mitte Juli 2023 in die Reha Klinik nach Bad Nauheim. Ich fuhr mit dem Zug hin und am Bahnhof in Bad Nauheim angekommen, wurde ich und ein weiterer Patient in die Klinik gefahren. Er hatte auch ein CI und ab da wusste ich, dass ich nicht allein bin. Die Reha Zeit war eine so schöne und intensive Zeit, in der man sich mit sich selbst beschäftigen konnte. Ich weiß noch, dass ich eine Zeit lang vor der Reha auf Instagram den Spruch von Viola Dingler gelesen und dann auch gepostet hatte: „Neues Hören erfordert Neusortierung und Anpassung der eigenen Identität“. Aber dieser Spruch wurde mir erst so richtig in der Reha bewusst, was genau damit gemeint war. Ich höre jetzt anders und daran wird sich auch nichts mehr ändern.
Die Vorträge, die Gruppen- und Einzelhörtrainings waren sehr hilfreich und am Ende konnte ich mein Hörvermögen in der Reha deutlich verbessern, obwohl ich bereits mit einem guten Niveau in die Reha gekommen war. Besonders geholfen hat mir jedoch die Zeit unter Gleichgesinnten zu verbringen, sich nicht allein zu fühlen und offen über Themen sprechen zu können. Außerdem war es schön, dass wir gelegentlich abends in die Stadt gingen, um gemeinsam etwas zu trinken. Ich blicke heute immer wieder gerne auf diese Zeit zurück.
Durch die Reha bin ich auf die junge Selbsthilfegruppe Deaf Ohr Alive aufmerksam geworden, zu der ich auf jeden Fall mal fahren wollte, um weiterhin Anschluss an junge Menschen mit einer Höreinschränkung zu haben. Das erste Mal war ich im November 2023 beim Stammtisch in Hanau dabei. Ich habe mich direkt wohlgefühlt und die Atmosphäre unter allen genossen, so dass ich auch gesagt habe ich, komme immer wieder gerne vorbei, auch wenn ich eine etwas weitere Anreise habe. Der nächste Termin war dann die Weihnachtsfeier in Friedberg, bei der ich dann auch wieder ein paar bekannte Gesichter aus der Reha und anderen Selbsthilfegruppen getroffen habe.
Heute kann ich sagen, dass meine einseitige Ertaubung mir so viel liebe Menschen in mein Leben gebracht hat, dass ich diese gar nicht mehr missen möchte. Ich habe mein neues Leben mit einseitiger Ertaubung mit CI akzeptiert und freue mich auf weiterhin großartige Begegnungen mit ganz vielen liebenswerten Menschen. Allerdings gibt es auch hin und wieder Momente, gerade wenn ich, wie bei diesem Bericht, in die Vergangenheit blicke, in denen ich mein „normales“ Hören vermisse. Trotzdem schaue ich zuversichtlich in die Zukunft und bin sehr froh, dass ich mich für das CI entschieden habe.
Julia W.
Juni 2024