Das Cochlea Implantat (CI) ist ein technisches Wunderwerk. Dennoch kann der Weg zum neuen Hören sehr lang und dornenreich sein. Bei mir waren die ersten Höreindrücke so niederschmetternd, dass ich kurz davor stand, Prozessor und Head-Set in die hinterste Schublade zu legen und aufzugeben. Zum Glück habe ich das nicht getan. Nach fünf Monaten geduldigen Ausharrens stellte sich dann doch noch ein Hörerfolg ein. Um all denen Mut zu machen, die einen ähnlich schlechten Start mit dem CI haben, möchte ich über meinen Weg zum neuen Hören ausführlich berichten.
Ich litt seit meiner Geburt an einer erblich bedingten Innenohrschwerhörigkeit. Die Behinderung war zunächst nur gering, wurde aber mit der Zeit allmählich schwerwiegender. In den achtziger Jahren wurde meine Schwerhörigkeit „an Taubheit grenzend". Trotzdem kam ich mit guten Hörgeräten zurecht und konnte weiterhin meinen Beruf als Richter am Amtsgericht ausüben. Doch es ging weiter abwärts. Telefonieren wurde für mich immer schwieriger und war ab 1995 nicht mehr möglich. Deshalb musste ich meinen Beruf aufgeben und ließ mich ab 1.1.1996 vorzeitig in den Ruhestand versetzen.
Aber was heißt „Ruhestand"? Weder von „Ruhe" noch von „Stand" konnte die Rede sein. Es gab keinen Stillstand. Das Leben ging weiter. Meine aktive Mitgliedschaft im DSB Ortsverein Wiesbaden hielt mich auf Trab. Inzwischen bin ich dort stellvertretender Vorsitzender. Mein Terminkalender war nach der Pensionierung praller gefüllt als vorher. Nur mit dem Hören ging es sehr schlecht. Ich dachte damals, dass ich jetzt den Tiefpunkt erreicht haben würde, noch schlechter konnte es doch eigentlich nicht werden. Aber da täuschte ich mich. Ab 2001 hörte ich meine eigene Stimme nicht mehr. Eine lautsprachliche Kommunikation war nicht mehr möglich. Man musste mir alles aufschreiben. Eine sorgfältige Vermessung am Universitätsklinikum Frankfurt ergab: Sprachverständnis 0%!
Was nun? Ich sah zwei Möglichkeiten: entweder ich würde mich mit Mundabsehen behelfen und Gebärdensprache lernen oder mir ein CI implantieren lassen.
Mundabsehen ist gut als Ergänzung zum Hören. Wenn es darum ging, akustisch ähnliche Wörter zu unterscheiden, hat mir das Mundabsehen früher viel geholfen. Doch wenn jemand zu Übungszwecken ohne Stimme sprach oder ich die Hörgeräte ausgeschaltet habe, konnte ich nur wenig ablesen und war niemals sicher, ob ich richtig verstanden habe. Gebärdensprache ist gut, weil man dann mit Hilfe eines Dolmetschers vieles erledigen kann, etwa Arztbesuche oder Behördengänge. Aber was tun, wenn man als Notfall schnell zum Arzt muß und die Zeit nicht reicht, um vorher einen Dolmetscher zu organisieren? Davon abgesehen war mein Kommunikationsmittel trotz aller Schwierigkeiten immer die Lautsprache gewesen. Bei einer Umstellung auf Gebärdensprache hätte ich von vorn anfangen müssen. Man sagt ja, die Deutsche Gebärdensprache sei mindestens so schwierig wie das Chinesische. Ich hätte also mit fast 60 Jahren eine schwierige und fremdartige neue Sprache lernen müssen. Das wollte ich mir nicht antun. Also entschied ich mich für ein CI.
Die Operation fand am 27.11.2002 im Universitätsklinikum Frankfurt unter der Leitung von Prof. Gstöttner statt. Sie verlief reibungslos. Das Restgehör auf dem linken (implantierten) Ohr ging verloren. Aber dem trauerte ich nicht nach. Es war ja so gering, dass es mir nichts mehr genützt hatte. Mit großer Spannung erwartete ich die Erstanpassung des Sprachprozessors, die am 19.12.2002 bei Prof. Stürzebecher in Frankfurt stattfinden sollte. Ich schraubte meine Erwartungen bewusst nicht hoch, um dann nicht zu sehr enttäuscht zu werden. Hauptsächlich kam es mir darauf an, meine eigene Stimme wieder zu hören. Denn wenn ich meine eigene Stimme nicht kontrollieren kann, entsteht irgendwann folgende Situation: ich verstehe die anderen nicht, weil ich taub bin; aber die anderen verstehen mich nicht, weil ich zu undeutlich spreche. Des weiteren hoffte ich, dass ich mit Hilfe von Mundabsehen einige Worte verstehen würde. Als Schwerhöriger erfaßte ich ja immer nur ungefähr die Hälfte und war gut geübt darin, die andere Hälfte sinngemäß zu ergänzen. Meine Erwartung an das CI beschränkte sich darauf, dass dieser Zustand wieder erreicht würde. Ich hoffte also auf einen Schritt zurück aus der Taubheit in die Schwerhörigkeit. Daran, dass ich ein Guthörender werden könnte, verschwendete ich keinen Gedanken.
Doch im Hinterkopf hatte ich noch eine weitere Hoffnung. Als Jugendlicher hatte ich Querflöte gespielt. Es gab auch damals schon einen Hochtonverlust, ich hörte nicht den ganzen Umfang der Flöte, aber doch so viel, dass ich z.B. Barockmusik, wo extrem hohe Töne selten vorkommen, recht gut spielen konnte. Doch der Hochtonverlust nahm zu. Vor 30 Jahren hatte es keinen Zweck mehr. Seitdem liegt die Flöte im Keller. Da nach meinen Informationen das CI hohe Töne besonders gut wiedergibt, hoffte ich, dass ich das Flötenspiel wieder aufnehmen könnte.
So bescheiden meine Erwartungen an das CI auch waren, sie wurden bitter enttäuscht. Dabei fing alles gut an! Bei der Erstanpassung am 19.12.2002 wurde mein Sprachprozessor (SPrint von der Fa. Cochlear) wie üblich zunächst an einen Computer angeschlossen. Ich hörte nun künstlich erzeugte Töne verschiedener Höhe und Lautstärke. So reine und klare Töne habe ich bis dahin nie in meinem Leben gehört. Ich war ganz begeistert. Offenbar funktionierte es ja. Aber dann, als der Prozessor vom Computer abgenabelt wurde, geschah etwas merkwürdiges. Hatte da jemand einen Vogelbauer ins Labor gebracht? Ich hörte nur noch ein seltsames Piepsen. Da bemerkte ich, dass Prof. Stürzebecher sich mir zugewandt hatte und offenbar mit mir sprach. Er bewegte jedenfalls wie ein Sprechender die Lippen. Ich aber hörte keine menschlichen Töne, sondern immer nur „Pieppiep-piep". Bei jeder Silbe machte es „piep". Wenn ich auf den Tisch klopfte, hörte ich „piep". Wenn ich hustete, hörte ich „piep". Wenn ich sprach, hörte ich „piep-piep-piep". Die Lautstärke dieses „Pieps" variierte, aber Tonhöhe und Klangcharakter waren immer gleich. Offenbar war das Implantat nur in der Lage, ein und denselben Piepton zu erzeugen, egal welches akustische Signal der Auslöser war. Da ich immer nur „Piep" hörte, konnte ich kein Geräusch erkennen, auch nicht das „Sprechgeräusch" und natürlich kein einziges Wort verstehen. Ein niederschmetterndes Ergebnis!
Was mich bald wieder aufrichtete, war die Erfahrung, dass sehr viele Menschen mir beistanden: Herr Dr. Kiefer und Prof.Stürzebecher vom Klinikum Frankfurt, Dipl.-Ing. Pera und Dr. Hessel von der Fa. Cochlear, Herr Schwaninger und andere vom CIV HRM, der Vorstand und andere Mitglieder des DSB OV Wiesbaden, Frau Michels vom CIC Friedberg und nicht zuletzt meine Frau, die mich durch alle Höhen und Tiefen begleitete, die mein Leid mit mir teilte und mir nun weiterhin geduldig alles aufschrieb – sie alle standen mir mit Rat und Tat zur Seite. Ich hatte das gute Gefühl, nicht allein zu sein. Allein hätte ich es nicht geschafft.
Ich dachte, der Prozessor sei defekt. Aber man sagte mir, technisch sei alles in Ordnung, die Ursache für das Piepsen sei physiologischer Natur. Dr. Kiefer wies darauf hin, dass eine Gehirnblutung, die ich Ende 1992 hatte, das Hörzentrum im Gehirn geschädigt haben könnte. Aber dieses Hörzentrum passe sich mit der Zeit den elektrischen Reizen des Implantats an. Ich solle den Prozessor so oft wie möglich einschalten. Wenn der Hörnerv ständig stimuliert werde, werde es eines Tages einen Hörerfolg geben. Das war leichter gesagt als getan. Das Piepsen nervte furchtbar. Stellen Sie sich vor: sie hören den ganzen Tag absolut nichts, außer immer gleiche, sehr hohe Pieptöne. Das ist zum Verrücktwerden! Zu allem Überfluß nahm sich auch mein Tinnitus dieses Pieptones an. Wenn ich Headset und Prozessor längst abgelegt hatte, „hörte" ich immer noch: „piep-piep-piep". Auch nachts piepste es nervtötend und schlafraubend.
Ich konnte kaum glauben, dass sich an diesem desolaten Zustand etwas durch Anpassung der Nerven ändern könnte. Aber was sollte ich tun? Aufzugeben hätte bedeutet, dass ich für den Rest meines Lebens völlig taub sein würde. Weiterzumachen barg immerhin die aus meiner Sicht verschwindend kleine Chance, dass sich doch noch etwas bessert. Also machte ich weiter und ertrug geduldig das eintönige Piepkonzert.
Lange Zeit tat sich nichts. Erst nach ungefähr drei Monaten bemerkte ich erste geringfügige Veränderungen. Der Ton war nicht mehr so hell und schrill, sondern wurde nach und nach volltöniger, klang fast wie ein Akkord. Dadurch wurde es leichter, ihn zu ertragen und Frau Michels vom CIC Friedberg konnte schrittweise die Pegel erhöhen. Weiterhin sollte der Hörnerv so oft wie möglich stimuliert werden. Bei mir zu Hause ist es sehr ruhig, da wir in einer ländlichen Gegend wohnen und meine Frau ganztags arbeitet. Um trotzdem den Hörnerv zu „füttern", setzte ich mich jeden Tag eine Stunde hin und las laut eine Erzählung. Als Auditorium hatte ich meine beiden Katzen. Sie schauten mich bei meinen Vorträgen so mitleidig an, als wollten sie sagen: „jetzt ist er völlig verrückt geworden." Aber ich hielt die Lesestunden durch. Am rechten (nicht implantierten) Ohr trug ich ein Hörgerät. Dadurch hörte ich sehr leise und dumpf meine Stimme, aber ohne mich selbst zu verstehen.
Der Durchbruch kam Mitte Mai völlig überraschend. Während einer meiner einsamen Lesestunden hörte ich plötzlich meine Stimme ungewöhnlich laut und verstand sogar, was ich sagte. Aufgeregt lief ich im Haus herum. Überall hörte ich Geräusche, die mir bis dahin unbekannt waren. Auf der Holztreppe hörte ich sehr laut jeden meiner Schritte, ich hörte das Zischen beim Öffnen einer Mine
ralwasserflasche und das Gluckern beim Eingießen in ein Glas. Auch vernahm ich zum ersten Mal das Maunzen meiner Katzen. Draußen im Garten hörte ich die Vögel singen. Wegen des Hochton
verlustes von Geburt an war mir Vogelgesang bisher nicht zugänglich gewesen. Nun hörte ich es sehr laut Trillern und Trällern. Mir kamen fast die Tränen. Ich musste 59 Jahre alt werden, um zum ersten Mal in meinem Leben einen Vogel singen zu hören. Als abends meine Frau von der Arbeit heimkam, hörte ich ihre Stimme und verstand sogar vieles, wenn auch nicht alles. Aber jetzt konnte ich endlich das Hören und Verstehen systematisch üben. Das tat ich denn auch fleißig, teils zu Hause mit Hilfe einer CD, teils in Friedberg mit Frau Michels. Das Sprachverständnis wurde immer besser. Meine Frau braucht mir nichts mehr aufzuschreiben.
Gern hätte ich jetzt geschrieben: Ende gut, alles gut. Aber alles ist noch nicht gut. Das Implantat er
zeugt einen merkwürdigen Halleffekt. Auch in akkustisch trockenen Räumen klingt alles wie mit Hall unterlegt, also etwa so wie in einer Kirche. Dadurch klingt die Sprache undeutlich und es fällt mir schwer, bestimmte Konsonanten zu unterscheiden. Worte wie „Tasse" und „Kasse" klingen für mich gleich. Das „S" zischt bei mir genau so wie das „Sch". So bin ich auf das Mund-Absehen als Ergän
zung zum Hören angewiesen. Wohl aus diesem Grund verstehe ich Lautsprecherstimmen nicht.
Durchsagen auf Bahnhöfen oder in Zügen kommen bei mir nicht an. Ich kann nicht telefonieren und verstehe nur wenig vom Fernsehton. Bei sehr großen Lautsprechern, die an einen guten Verstärker angeschlossen sind, geht es besser. Meine Übungs-CD, die ich über unsere recht hochwertige Stereoanlage abspiele, kann ich gut verstehen.
Auch ist mein geheimer Traum von der Wiederaufnahme des Flötenspiels (bisher?) nicht in Erfüllung gegangen. Der Prozessor ist völlig unmusikalisch. Außer der Oktave kann er kein musikalisches Intervall korrekt wiedergeben. Musik klingt daher für mich wie ein unharmonisches Jaulen und Kreischen. Die Flöte musste wieder in den Keller. Aber vielleicht nicht für immer. Man hat mir gesagt, dass auch die noch vorhandenen Probleme nicht am Implantat selbst liegen, sondern physiologische Ursachen haben. Durch weitergehende Anpassung der Hörnerven könnten eines Tages auch der Hall verschwinden und musikalische Intervalle korrekt wiedergegeben werden. Früher hätte ich das nicht geglaubt. Aber meine Erfahrung mit den Pieptönen und ihrer Überwindung nach 5 Monaten hat mich gelehrt, dass man beim CI Geduld haben muß und die Hoffnung niemals aufgeben darf.
Das CI ist zweifellos ein Wunderwerk der Technik. Aber ein viel größeres Wunder ist die Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns.
Peter Gerullis
November 2003