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Referat vom 10. Friedberger Symposium 2004
 
Es ist nicht selbstverständlich, dass Kinder in Liebe, Geborgenheit, Aufmerksamkeit und Nestwärme aufwachsen. Meine Kindheit wie auch die Zeit des Heranwachsens sind hierfür ein Beispiel.
 
Nach fast 55 Jahren Schwerhörigkeit nachzuvollziehen, wann und wie alles irgendwann einmal begonnen hat, kann eigentlich nur in Form eines Zeitraffers erfolgen.
 
1950 in Hamburg – meine Eltern befanden sich gerade in einem überaus heftigen und unschönen Scheidungskrieg – bekam ich mit 5 Jahren eine beidseitige Mittelohrentzündung und musste ins Krankenhaus.
 
Als ich entlassen wurde, sah ich meine Mutter unaufhörlich weinen, während mein Vater aufgeregt und zornig packte und packte. Dann verließ er uns. An dieses schmerzliche Verlustgefühl, meinen heiß geliebten und vergötterten Vater nun für immer verloren zu haben, kann ich mich noch heute gut erinnern. Ich war verstört und entsetzt.
 
Meine Mutter war mir gegenüber stets kühl und distanziert. Ich hatte das Gefühl, bei der Neuordnung ihres Lebens im Wege zu sein. Meine Großmutter war es dann, die 3 Jahre nach meiner Mittelohrentzündung bemerkte, dass mit meinen Ohren etwas nicht in Ordnung war. Sie stellte fest, dass bei mir keinerlei Reaktion auf ganz alltägliche Dinge, wie z.B. Wasserkesselpfeifen oder Türklingeln erfolgte. 
 
Darauf angesprochen winkte Mutter nur gleichgültig ab und sagte: „Dieses Kind hört nicht schlecht, sie träumt. Sie hockt unablässig irgendwo hoch oben in den Wolken. Dort scheint sie eine Art ... Nest zu haben. Dieses Kind hat einfach keine Bodenhaftung. Keine Sorge, ihre Ohren sind ebenso intakt wie ihr Appetit."
 
Meine Großmutter jedoch wollte es genauer wissen und ging mit mir in die Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Dort konnte man eine Ursache für das schlechte Hören nicht feststellen. Man vermutete, dass ich unter einer Art Trauma litt, bedingt durch die Scheidung und die Abwesenheit des Vaters.
 
Der Satz: „Anna hört schlecht, das ist bei ihr nervlich bedingt," wurde ab da zu meinem ständigen Begleiter. Er gehörte fortan zu meinem Leben, wie meine Füße.
 
Die Teenagerzeit wurde durch meinen vermeintlichen Ungehorsam und die auf den Fuß folgenden Strafen, psychisch negativ beeinflußt. Teilweise bis heute. Nicht nur im Elternhaus, auch die Schulkameraden ließen mich sehr genau, teilweise handfest, spüren, dass ich anders war und lehnten mich ab.
 
Und immer wieder von allen Seiten Strafen, Strafen, nichts als Strafen. Ständig! Niemand bemerkte, dass ich Anweisungen oder Fragen, gar nicht gehört hatte. Jahrelang!
 
Das ohnehin mehr als schwierige Zusammenleben mit meiner Mutter wurde langsam zu einer unerträglichen Tortur, vergleichbar wohl am ehesten mit einem hochexplosiven Minenfeld - ganz gleich, wohin ich trat - Mutter explodierte. Weder Mutter noch später die Lehrer nahmen die zunehmend schlimmer werdende Schwerhörigkeit wahr.
 
Ich war für alle nervlich irgendwie nicht in Ordnung – so einfach war das!
 
Als nun auch noch aus der Schule Beschwerden wegen Ungehorsam kamen, steckte mich meine Mutter, entnervt von meinem Unvermögen, mich nicht einordnen zu können, kurzerhand in ein Internat. Doch auch da: Strafen für unablässiges Tagträumen, Strafen, weil ich nicht zuhörte, weghörte, nicht hinhörte, nicht hören wollte. Ein Straftrauma reihte sich für mich an das nächste. Ich wurde verstockt, rebellisch, aufsässig ... was wiederum erneute Strafen nach sich zog.
 
Mein ganzes Leben, die Kindheit, die Zeit des Heranwachsens, ebenso die Zeit des Erwachsenseins, war ein einziger Balanceakt auf öligem Hochseil ohne Sicherheitsnetz, tief unter mir, die Grube der Strafen. 
 
In der Pubertät wurde die ohnehin leckgeschlagene Psyche, durch schlechtes Hören und starke Akne, zusätzlich belastet.
 
Mit ungefähr 18 Jahren allerdings, ging ich selbst mit dem schlechten Hören mittlerweile recht gut um und wurde zur regelrechten Plapperschnute. Ich sagte mir: Rede Mädchen, rede, dann brauchst du nicht zuzuhören. 
 
Im direkten Gespräch mit Menschen hatte ich mich zudem zu einem raffinierten und ausgebufften Fangfragensteller entwickelt und wenn irgend möglich, lenkte ich Unterhaltungen geschickt auf mir vertrauten Boden. 
 
Da ich mit zunehmendem Alter immer schlechter hörte, ging ich allmählich dazu über, mich mit Humor und raffinierter Gesprächsstrategie über Wasser zu halten, indem ich so eine Art Alleinunterhalter wurde, denn meine Kopfresonanz war derzeit ja noch prächtig intakt. 
 
Mit 26 Jahren entschloss sich das Leben, mir Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Ich heiratete, bekam ein Kind und lernte endlich Liebe, Geborgenheit, Zuwendung und Fürsorge kennen. Mein Mann, dem das schlechte Hören keine Ruhe ließ, meinte, der Schock über die Scheidung meiner Eltern könne es nach fast 21 Jahren weiß Gott nicht mehr sein. Über Jahre gingen wir zu diversen Ohrenärzten und Hörakustikern. Sie alle waren nach ihren Tests ratlos, jedoch voller Mitgefühl, denn die Hörerei wurde zunehmend schlechter. Helfen konnten sie mir nicht. Mit dem Hinweis, der Stand der Medizin sei noch nicht so weit, mir helfen zu können, ging ich jedes Mal ein bisschen mehr frustriert und mutloser nach Hause.
 
Mein Gynäkologe, dem ich während meiner Schwangerschaft erzählte, dass ich Angst hätte, mein Baby eventuell nicht schreien hören zu können, schickte mich 1971 nach Mainz zu Professor Kley.
 
Endlich, endlich wussten wir nach diesem Besuch, was vermutlich der Grund für meine Schwerhörigkeit war. Professor Kley erklärte uns, Studien hätten ergeben, dass 1950 bei Mittelohrentzündungen das Medikament Streptomycin verabreicht wurde und das ich möglicherweise durch die Einnahme von Streptomycin beidseitig schwerste Innenohrschädigungen bekommen hätte. Doch auch Professor Kley erklärte uns, nach dem derzeitigen Stand der Medizin könne man mir da leider nicht helfen.
 
Unser Sohn lernte bereits als kleines Kind von 4 Jahren, geduldig zu wiederholen. Damit ich ihn gut verstehen konnte, versuchte er sich mir gegenüber unerschütterlich in der Kleinkindsprache. Um mir zum Beispiel das Wort Huhn zu erklären, das ich auch trotz mehrfachen Wiederholens nicht verstand, krähte er originaltongetreu ein kräftiges Kikeriki. Solange, und mit Engelsgeduld, bis ich es hatte. Waren wir allein zu Hause, weil mein Mann auf Geschäftsreisen war, baute er mit 7 Jahren für seine ängstliche, die Gefahren nicht hörende Mutter, eine exakt durchdachte Schepper- und Knallkonstruktion für die Nacht. Ein Frühwarnsystem von der Haustür bis hin zur großen Kinderzehe im 1. Stock. Sein Vater hatte ihn vor der Abreise eindringlich gebeten, gut auf die Mami aufzupassen. Das tat er und nahm es immer sehr wörtlich. Ich war wirklich in allerbesten Händen.
 
Jahrelang und unverdrossen probierte ich weiter und voll Hoffnung alle gängigen Hörgeräte aus, doch immer vergebens. Schlecht Gehörtes hörte ich lediglich lauter schlecht, nicht deutlicher. Zornig vor Enttäuschung rupfte ich mir nicht nur einmal, diese bohnenartigen Knöpfchen aus den Ohren und stürmte wütend vor mich hinweinend aus den Hörakustikergeschäften.
 
Mein armer, sehr präzise sprechender Mann, ertrug jahrelang heldenhaft meine Nörgelei, wenn ich ihn wiederholt und oftmals zickig bat, doch bitte nicht so herumzunuscheln. 
 
Dann endlich, 1999 nach 49 Jahren voller Tränen, Wut und Enttäuschungen, nach jahrzehntelangem Hörfrust, erschien endlich ein Silberstreif am Horizont.
 
Nun hieß es: „Nach dem Stand der derzeitigen Medizin besteht eine reelle Chance für Sie!"
 
Es war nicht zu fassen. Ich glaubte es nicht. Doch jetzt, wo endlich, endlich Hilfe in Aussicht war, wurde ich bockig wie ein Esel. Ich traute dem Frieden nicht. Zu lange hatte ich auf ein Wunder gehofft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es etwas geben sollte, was mir helfen würde. Irgendein Haken lag sicher bereits auf der Lauer, davon war ich überzeugt. Nein, ich wollte nie wieder enttäuscht werden. 
 
Widerwillig und trotzig fuhr ich, nur meinem unermüdlich um mich besorgten Mann zuliebe, in die Hals-Nasen-Ohren-Klinik nach Würzburg. Wieder einmal wurden diese schrecklichen Ohren untersucht und siehe da, am Ende jenen Tages hieß es dann irgendwann verheißungsvoll: Eine Implantation würde die ersehnte Hilfe bringen.
 
Aber ich sorgte mich! 
 
„Nein!" sagte ich patzig zu den verdutzten Ärzten, denn würde etwas bei der Operation misslingen, wovon ich felsenfest überzeugt war, ginge auch der letzte Rest an Hörvermögen den Bach hinunter. Ganz störrischer Esel lockte mich keine Möhre der Welt, in diese Operation.
 
Mit unvergleichlichem Einfühlungsvermögen und geradezu liebevoll besorgter Behutsamkeit gelang es dann ausschließlich Oberarzt Dr. Müller, mich sanft und sehr subtil davon zu überzeugen, dass dies die Chance sei, auf die ich so sehr lange gehofft und gewartet hatte. Das Zauberwort erklärte er mir, hieß: Cochlea-Implantat.
 
Nur sehr langsam drang es dann endlich zu mir durch. Mich zu überzeugen kostete immer schon viel Kraft und Nerven. Dr. Müller schaffte es spielerisch, wofür ich ihn bewunderte. Ich war derart begeistert, dass ich ihm euphorisch sogar freiwillig mein zweites Ohr zur Implantation anbot. Doch wir einigten uns vorerst einmal auf das rechte Ohr.
 
8 Wochen später war ich nach weiteren vorbereitenden Untersuchungen implantiert.
 
Ich habe mir mit 55 Jahren dieses schier unglaubliche, nette, kleine Computerchen von MedEl in den Kopf implantieren lassen und habe es nie, nie, nie auch nur eine einzige Sekunde bereut. 
 
Die Patientenbetreuung und die Serviceleistungen der Firma Med-El sind einzigartig und sehr beruhigend. Jedes noch so kleine Problemchen findet umgehend Aufmerksamkeit, um dann rasch und sehr versiert behandelt zu werden. Ich hatte in Zusammenarbeit mit dem Implantathersteller von Anfang an das Gefühl, mich völlig entspannt zurücklehnen zu können.
 
 
Bereits ein halbes Jahr nach der Implantation war es vorbei damit, verlegen und mit gesenktem Kopf unverständliche Antworten in die Achselhöhle zu nuscheln. Ich musste auch nicht mehr auf Fragen, die ich nicht verstand, dümmlich grinsen. Alles Schnee von gestern. 
 
Mittlerweile antworte ich sofort. Klar und unmissverständlich. Für viele Menschen oftmals eine ungemütliche Erfahrung.
 
Mit 56 Jahren hörte ich den ersten Vogel meines Lebens. Eine Krähe! Sie können mir glauben, ich fand dieses unheimliche, bedrohliche Geräusch einfach göttlich!
 
Die Zeit des Nachinnenlebens ist vorbei. Endlich hatte ich jenes Selbstwertgefühl erlangt, von dem ich seit Teenagertagen träumte. Ich platzte vor neu gewonnener Energie und sprudele nur so über vor Tatendrang. Mit dieser neu gewonnenen Energie habe ich mir einen Lebenstraum erfüllt: 
 
Ich habe ein Buch geschrieben.
 
... und endlich habe ich damit begonnen, die vielen, vielen Schutzpanzer, von denen ich massenhaft in riesengroßen Schränken habe – zu verschrotten.
 
Im nächsten Jahr werde ich 60 und ich finde es wunderschön.