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Vorgeschichte: Die stillen Jahre
 
Ende 1989, im Alter von 31 Jahren, wurde ich unvermittelt aus einem guthörenden in ein hörbehindertes Leben katapultiert. Nach einer Lebertransplantation zerstörte ein Antibiotikum mein Gehör. Die Hörschädigung war – und blieb – das "kleinere Übel", denn ich hatte überlebt. So dachte ich, so dachten alle, und so habe ich für mich in den folgenden Jahren immer wieder die Dinge gerade rücken können, wenn ich doch mit der Trauer um all das zu kämpfen hatte, was ich verloren hatte. Denn weit mehr als die Transplantation bestimmte künftig die Hörbehinderung mein Leben, in dem zunächst kein Stein mehr auf dem anderen stand.
 
Gesundheitlich ging es mir in den Folgejahren immer besser, nur mein Gehör entwickelte sich entgegengesetzt. Hatte ich anfangs noch mit vertrauten Menschen telefonieren und Gespräche im kleinen Kreis gut verfolgen können, verschlechterten sich meine Ohren innerhalb der nächsten beiden Jahre bis zu einer Resthörigkeit im Tieftonbereich. Es war ein Abschied auf Raten: Von meinem auf Kommunikation basierenden Beruf (Dipl.Pädagogin) über private Kontakte bis hin zum Verlust der Musik, die mir so viel bedeutet hatte. Unterstützung und Halt fand ich im kleinen privaten Kreis, professionelle Hilfestellungen suchte ich in den ersten Jahren vergebens. Berater von Arbeitsämtern zuckten hilflos die Schultern, Ärzte ebenso. Ich bekam zwei Hörgeräte angepasst (die binnen kurzer Zeit zu schwach wurden) und das war es zunächst. So beantragte ich nach zwei Jahren eine Berufsunfähigkeitsrente und zog mich vorerst "ins Private" zurück; mein Mann und ich begannen uns mit diesem für uns beide neuen Leben zu arrangieren. 
 
Es war still geworden um mich herum. Da aber vom Jammern noch kein Ohr besser geworden ist und ich andererseits glücklich und dankbar war über mein zweites Leben und meine wiederhergestellte Gesundheit, änderte ich den Blickwinkel, konzentrierte mich nicht länger auf das, was ich nicht mehr konnte, sondern auf das, was noch – oder neu – möglich war und suchte mir andere Ventile. Lesend, schreibend und lernend, auch mittels diverser Fernlehrgänge, erkundete ich neue Bereiche – und letztlich mich selbst. 
 
Während einer Anschlussheilbehandlung in der Baumrainklinik in Bad Berleburg traf ich zum ersten Mal andere Hörgeschädigte, daraus ergaben sich dauerhafte Kontakte und ehrenamtliche Aktivitäten. Von vielen meiner Bekannten wusste ich, wie sehr ihr Selbstwertgefühl unter der Hörschädigung gelitten hatte. Bei mir war es eher umgekehrt: Erst in diesen stillen Jahren, zurück geworfen auf mich selbst, fand ich meine Richtung und zu einem Selbstbewusstsein, das ich vorher so nicht hatte. Es war mir von Anfang an nicht schwer gefallen, zu meiner Hörschädigung zu stehen und Arzt- und Behördengänge, Fahrten zu Seminaren etc. allein zu unternehmen, und auch, wenn der Alltag sich oft mühsam und frustrierend gestaltete - ich hatte ja meine "Inseln" zum Auftanken. 
 
 
Das CI: "Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise..."
 
Zum ersten Mal vom CI gehört hatte ich 1992, als ich nach einer weiteren Hörverschlechterung stationär in der Marburger HNO-Klinik behandelt wurde. Mitarbeiterinnen des Hörlabors hatten mir - angerührt von meiner Traurigkeit und meiner Angst, bald vollkommen taub zu sein - Beiträge aus Fachzeitschriften kopiert. Mir erschien das CI damals utopisch, aber ich sah es auch als einen Rettungsanker: Wenn wirklich gar nichts mehr geht, geht vielleicht das noch...
 
Jahre später erlebte ich mit, wie sich immer mehr meiner Bekannten für ein CI entschieden und verfolgte sehr gespannt ihre Erfahrungen. Ich interessierte und informierte mich, besuchte auch ein Info-Seminar zum Thema CI – nur selbst wollte ich keins. Ich plagte mich nicht mit der Frage "soll ich oder nicht", sondern war mir lange Zeit sicher, dass ich NOCH nicht wollte. Eine große Rolle spielte dabei der Gedanke an meine so schwer erkämpfte Gesundheit, die ich um keinen Preis gefährden wollte.
 
Aber irgendwann begannen sich die Wertungen zu verschieben. Die Zeit war reif für Veränderungen, ich brauchte neue Herausforderungen und Perspektiven und litt zunehmend unter den Grenzen, die mir meine Taubheit dabei setzte. Als der Wunsch, wieder besser zu hören, stärker geworden war als meine Bedenken, traf ich die Entscheidung für ein CI und stand ab diesem Moment auch voll und ganz dahinter. Die Risiken waren ein Teil der Chance, ich war bereit zu diesem Abenteuer und begann mich darauf zu freuen, ganz vorsichtig zunächst...
 
Am 28. April 2003 bekam ich in der Uniklinik Frankfurt ein Nucleus-CI. Die Operation und den Heilungsprozess überstand ich ohne nennenswerte Komplikationen – und war sooo froh und erleichtert. 
 
Schon drei Wochen später war die Erstanpassung; nach insgesamt drei Stunden Einstellung war ich "online" mit dem ESPrit 3G. Es dauerte, bis mir klar wurde: Das war meine eigene Stimme, die ich da hörte... diese Roboterstimme wie von einem anderen Stern, die von irgendwo weit oben rechts zu kommen schien, fremdkörperartig. Genauso klang die Stimme des Technikers. Ich war völlig irritiert, aber nach kurzer Zeit konnte ich seltsamerweise schon besser verstehen. Draußen klang alles unglaublich hoch, zwitschernd, knisternd oder pfeifend, ich musste bei jedem Geräusch orten, woher es kam und was es sein könnte und manches, was ich gewohnt war zu hören, hörte ich gar nicht mehr. 
 
Zu Hause suchte und fand ich reichlich weitere Geräusche, keins davon klang, wie es klingen sollte. Unglaublich, wie sich ein aufgedrehter Wasserhahn mit einem frisch eingestellten CI anhören kann (klirr-zwitscher-klingel-pfeif). Mein Mann hatte die mir fast schon vertraute Roboterstimme, ich grinste über alles, was er sagte, was nun wiederum er sehr irritierend fand, aber ich verstand ihn gut – das hatte ich wohl den lange nicht mehr vernommenen Zischlauten zu verdanken, die ihrem Namen alle Ehre machten und heftigst zischten. Nach den Erfahrungsberichten, die ich kannte, war ich auf kuriose Höreindrücke nach der Erstanpassung gefasst und bekam somit keinen Nervenzusammenbruch, sondern fand das alles ziemlich lustig. Allerdings war ich am Abend restlos geschafft.
 
Als ich am nächsten Tag den Sprachprozessor wieder einschaltete, war schon alles anders. Ich hörte viel mehr und differenzierter, Stimmen klangen zwar zunächst noch wie gestörtes Autoradio, rückten mir aber wieder nah, beim Einkaufen verstand ich ohne hinzusehen Zahlen und Satzfragmente, ich hörte das Messer durch die Gurke schneiden und war so fasziniert vom Geräusch des Salzstreuers, dass ich um ein Haar den Gurkensalat versalzen hätte. Das CI übernahm von Anfang an die Regie. Mein Hörgerät am anderen Ohr – meine "Bässe", mit denen ich seit langem keine Sprache mehr verstehen kann - trage ich seitdem, um den Sound voller und angenehmer zu machen; beides ergänzt sich sehr gut, denn diese Tiefen erreicht das CI nicht. 
 
Es gab viele Glücksmomente in der ersten Zeit mit dem CI: das so lange vermisste Vogelzwitschern, das meine Begleitmusik wurde in diesen Sommermonaten, die Abende in Biergärten, in denen das Verstehen kein Problem mehr war für mich, ein Literaturseminar, bei dem ich Sprache über Ringschleife und Induktionsspule so klar verstand, dass ich nebenbei Notizen machen konnte, das erste erfolgreiche Telefongespräch, die Mühelosigkeit von Gesprächen, auch wieder mit Fremden. 
 
Schwieriger wird es in sehr lauter Umgebung, aber ansonsten "merkt man fast gar nichts mehr", sagen meine begeisterten Mitmenschen – die sich seither an meiner wiedergefundenen Schlagfertigkeit erfreuen, aber auch erfahren mussten, dass ich so manches höre, was ich gar nicht hören soll... In diesem ersten Sommer mit dem CI habe ich mich einfach ins Leben gestürzt und alles neu ausprobiert, zugehört, ohne etwas erzwingen zu wollen, und so konnte ich die große Freude über jeden Fortschritt ungetrübt genießen. Eine Reha in der Baumrainklinik im Herbst des Jahres rundete die erste Phase mit dem CI schließlich ab. Dort habe ich mich auch zum ersten Mal wieder der so schmerzlich vermissten Musik angenähert. Der Klang ist noch nicht immer das Wahre, aber ich erkenne vertraute Stücke, das Feeling ist wieder da. Eine Musikanlage ist wieder in mein Zimmer eingezogen; ich bin guten Mutes und übe weiter.
 
Jetzt, nach über einem Jahr, ist das gute Hören mit dem CI fast selbstverständlich geworden. Fast. Denn immer noch wird mir oft bewusst, wie viel unbeschwerter und unkomplizierter mein Leben dadurch wieder verläuft. Kein Magengrimmen mehr vor Geselligkeiten und Terminen: Verstehe ich da auch genug? Lautsprecherdurchsagen verstehen ist nach wie vor Glücksache, aber ich weiß jetzt, dass ich meine Mitmenschen wieder gut verstehe und nachfragen kann, und seitdem unternehme ich auch allein Flugreisen. Krafttraining in einem großen Fitness-Center wäre vorher unmöglich gewesen, ich hätte nur Tiefton-Gerätekrach gehört. Jetzt kommt es vor, dass Trainer meine Hörbehinderung vergessen (obwohl doch mein ESPrit 3G in lila weithin leuchtet) und auch nichts davon bemerken. Nach wie vor genieße ich aber ganz besonders die "kleinen Dinge": die zwitschernden Vögel, das sehr leise Maunzen meiner Katze, das ich nun endlich höre und angemessen beantworten kann, oder die beiläufigen Plaudereien mit Fremden oder entfernten Bekannten, beim Einkaufen, auf der Straße, die ich früher gemieden habe, weil Beiläufigkeit unter ständigem Nachfragen eben nicht mehr beiläufig, sondern stressig ist.
 
Ich werde immer schwerhörig bleiben und in verschiedenen Situationen an meine Grenzen kommen. Damit kann ich gut leben, denn im Vergleich zu vorher bedeutet das CI für mich, wieder zu hören. Die Realität hat meine Erwartungen weit übertroffen. Oft werde ich gefragt: "Hättest du das vorher gewusst – dann hättest du dich sicher schon vor Jahren entschieden?" - Nein. Meine stillen Jahre waren in anderer Weise wichtig für mich. Ich habe meiner Ertaubung viel zu verdanken, habe viel gelernt in dieser Zeit, aber auch erkannt, als es Zeit wurde, weiter zu gehen. Jetzt bin ich glücklich mit dem CI, das mein Leben um viele Facetten bereichert.
 
Margret Metz 
Juni 2004
 
("Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise..." aus: "Stufen" von Hermann Hesse)
 
Hier noch ein Foto von mir: