Oder Bericht über die Anpassung des Sprachprozessors an mein Cochlea-Implantat
Liebe Leserin, lieber Leser!
Eigentlich sollte mein Rundbrief vom 25. Aug. 2003 „Wie der Ohrwurm in die Schnecke kam" (erschienen im Heft des DSB Ortsvereins Wiesbaden e.V.) ein eleganter „Befreiungsschlag" sein, um meine vielen Briefschulden zu bewältigen. Es überraschte mich dann, daß fast die Hälfte meiner Leser mit einem Echo reagierten. Überwiegend waren es einfach nette Rückmeldungen, gute Wünsche für den weiteren Verlauf oder auch Nachfragen. Eher dachte ich, daß ich Beschwerden erhalte, weil ich meinen Lesern und Leserinnen vier Seiten „Papiermüll" zumutete. Aber niemand hat sich beschwert.
Die meisten Nachfragen bezogen sich auf die kurze Dauer des Klinikaufenthaltes und darauf, daß ich so bald wieder normal zur Arbeit ging. Es stimmt tatsächlich, daß ich am 15. Aug. operiert wurde und am 20. Aug. schon wieder zu Hause war. Die anschließende Rekonvaleszenz dauerte dann noch bis einschl. 29. Aug. Am 1. Sept. habe ich wieder gearbeitet, zwar noch taub, aber mit dem Implantat im Kopf. Ich wurde auch gefragt, ob mir keine Fäden der OP-Naht gezogen wurden. Es mußten keine Fäden gezogen werden! Darüber war und bin ich selbst verblüfft. Mir fehlt leider das medizinische Wissen, um dies genau zu erklären. Anscheinend ist es so, daß heutzutage die OP-Naht fest „verklebt" wird. Was an „Fäden" da ist, löst sich beim Heilungsprozess von selbst auf.
Endlich war es am 12. Oktober 2003 so weit, daß ich zur Anpassung des Sprachprozessors wieder nach Freiburg fahren konnte. Aber ich fuhr nicht alleine. Es wird vom Implantat Centrum Freiburg (ICF) empfohlen, eine Begleitperson mitzubringen. Dies sei sinnvoll, um nach der Anpassung Orientierungshilfe beim Erfassen all der Töne, Geräusche und Sprache zu erhalten. Ich bat deshalb Elisabeth Kugler mich zu begleiten. Aufgrund unserer gemeinsamen Arbeit und Erfahrung im Deutschen Schwerhörigenbund und in der Deutschen Ertaubtengemeinschaft ist sie geradezu prädestiniert für eine derartige Aufgabe. Um es vorwegzunehmen: Es war tatsächlich sehr sinnvoll, ja notwendig, daß ich diese medizinisch indizierte Begleitperson hatte.
Elisabeth ließ ihr Auto in Leonberg stehen. Wir fuhren sehr angenehm mit IC und ICE nach Freiburg. Elisabeth hatte ihr Quartier in einem Hotel unweit vom „Paradies", einer sehr empfehlenswerten Gaststätte, die nicht nur einen Biergarten hat, sondern auch einen Wintergarten. Und ich war als Patient im ICF untergebracht. Die Mahlzeiten konnten wir beide im ICF einnehmen.
Am 13. Oktober beim Frühstück im Speiseraum des ICF staunten wir erst einmal, weil die überwiegende Zahl der Patienten aus Kindern zwischen dem 1. und ca. 12. Lebensjahr bestand. Hier waren wiederum die unter 6 Jahre alten Kinder in der Mehrheit. Sie alle trugen ein Cochlea Implantat (CI) und machten den Eindruck, damit auch gut hören zu können. Dieses Hörenkönnen zeigte auch deutlich Erfolg, weil sie alle, wenn auch unterschiedlich, lautsprachliche Kompetenz hatten. Die Kinder waren alle von ihren Eltern begleitet, teilweise waren auch Geschwisterkinder mit dabei. So herrschte eine nette, familiäre Stimmung im ICF.
Um 10.15 Uhr war es dann so weit. Die Anpassung des Sprachprozessors (SP) an das CI begann. Vorgenommen wurde sie von Herrn Gerber, einem der dafür zuständigen Techniker des ICF.
Zum ersten Mal sah ich nun Sprachprozessor und Sendespule meines CI. Es ist ein Hinter-dem-Ohr-Gerät, Model ESPrit 3 G, von der australischen Firma Nucleus. Darüber habe ich mich natürlich gefreut. Es ist schon ein technisches Wunder, auf welchem winzigen Raum die gesamte Elektronik und Technik untergebracht ist. Nach einigen Erklärungen durch Herrn Gerber, die ich noch im tauben Zustand mit Hilfe meiner Absehkünste entgegen nahm, begann dann die eigentliche Anpassung. Das Gerät wurde mit einem PC verkabelt und mir mitsamt der Sendespule hinter das Ohr gesetzt. Ich mußte nun sagen, wenn ich etwas hörte. Es begann erst mit sehr leisen Tönen im unteren Bereich. Die Anpassung erfordert äußerste Konzentration. Bei mir war es noch etwas komplizierter, weil ich unter ständigem Tinnitus (Innenohrgeräusche) leide.
Es ist schwer, zwischen allen Tönen und dem Tinnitus zu unterscheiden. Dann folgten die lauten Töne im oberen Bereich. Hier mußte ich feststellen, wo der Ton die Behaglichkeitsgrenze überschreitet. Die so festgestellten Werte werden dann alle im PC gespeichert und dann im SP einprogrammiert. Während der Anpassung ging das konzentrierte Gespräch weiter. Es geht nichts über das Absehenkönnen! Als dann das Programm im SP drinnen war, sprach Herr Gerber weiter und ich auch. Und ich hörte dann alles!!! Wir diskutierten weiter, wie ich höre. Liebe Leserinnen und Leser, ich vergaß darüber schlicht und einfach vor Freude zu heulen. Ich hörte wieder! Ich konnte Sprache sofort eindeutig als solche vernehmen. Ich mußte nicht mehr so konzentriert absehen. Obwohl der Klang und das Hören anders sind als früher, war mir Elisabeths Stimme und Sprache schnell vertraut, wie von früher her. Und auch Herrn Gerbers Stimme und Sprache konnte ich einwandfrei hören. Aber es gab da noch viel Piepen, Pfeifen und Zwitschern von dem ich nicht wußte woher es kommt und welche Ursache es hat. Und was mir auch gleich sehr wichtig war: Ich hörte mich endlich selbst wieder und konnte so meine Sprache kontrollieren. So viel an Hörenkönnen – vor allem auch im Sprachbereich – hatte ich nicht erwartet. Ich war verblüfft und Elisabeth auch!
Nach der Anpassung ging es in den Speiseraum zum Mittagessen. Glücklicherweise war ich schon von Udo Barabas, unserem Vorsitzenden des Cochlear Implant Verbandes Baden-Württemberg, vorgewarnt. Ein akustisches Inferno von Pfeifen, Piepen, schrillem Zwitschern und Quietschen empfing mich. So nach und nach merkte ich dann, daß es sich um Kinderstimmen, Besteckklappern, Stühlerücken, Schmatzen, Kauen und Sprechen handelte. Das Unterscheiden solcher Geräuschereignisse habe ich bis heute noch nicht so richtig geschafft, aber es wird immer besser.
Am Nachmittag war dann noch eine Visite bei meiner Operateurin, Frau Doktor Aschendorf. Sie war hochzufrieden mit mir und freute sich, daß ich schon vier Stunden nach der Anpassung so (verhältnismäßig) gut hören konnte.
Danach war dann die Begleitung durch Elisabeth Kugler Gold wert. Ich setzte mich dem Lärm auf Straßen und Plätzen und in der Straßenbahn aus. Glücklicherweise hatte Herr Gerber offensichtlich die Programmierung so vorgenommen, daß der Verkehrslärm gedämpft wurde. Das war auch gut so, denn es gab genug zu hören und entsprechend zu deuten. Elisabeth, obgleich zwar links taub und rechts hochgradig schwerhörig und mit Hörgerät versorgt, half mir dabei. Sonst wäre ich orientierungslos im Meer der Töne und Geräusche untergegangen.
Ich möchte nun meine Leserschaft nicht weiter damit langweilen wie es nun weiter ging mit dem Hören und dem Lernen des Hörens. Wissenswert ist, daß dann jeweils am 14., 15. und 16. Oktober eine erneute Anpassung stattfand. Da sich das Hirn auf die neue Situation schnell ein- und umstellt, sind diese täglichen Korrekturen des Programmes normal und notwendig. Die letzte Anpassung nahm Herr Dr. Stecker vor. Ich bewundere sowohl Herrn Gerber als auch Herrn Dr. Stecker sehr für ihre freundliche, ruhige, einfühlsame und sachkundige Arbeit.
Es gab aber auch noch andere Termine im ICF außer der SP-Anpassung. Mit der Logopädin, Frau Folhoffer, diskutierten wir über die Möglichkeiten und Grenzen des CI bei mir. Wir drei haben die übereinstimmende Einschätzung, daß es zu einem vollständigen offenen Sprachverständnis (also ohne Absehen vom Mund) bei mir nicht kommen wird. Aber wer von den CI-Trägern kann das schon? Unter Anleitung von Frau Folhoffer und mit Hilfe eines PC, versuchte ich dann auch verschiedene Geräusche unterscheiden zu lernen. Das war gar nicht so einfach. Ein anderes mal gab es Übungen, in denen ich den Wortrhythmus mit geschlossenen Augen erkennen sollte. Das klappte auf Anhieb. Noch schöner war, daß ich sogar einzelne Worte nicht nur hörte, sondern auch verstand. Als Elisabeth sich den Spaß machte, „Kuckuck" zu sagen, mußte ich allerdings passen. Ich tippte „auf irgendwas mit Zug oder Ruck Zuck". Wir mußten natürlich alle drei lachen und freuten uns über meine Hörerfolge.
Es gab auch das Angebot einer psychologischen Betreuung durch Herrn Burger. Die Psycho-Stunde geriet aber mehr zu einer Lehrstunde für den Psychologen. Elisabeth und ich vermittelten ihm unsere Erfahrungen und Erkenntnise aus unserer Arbeit im Deutschen Schwerhörigenbund und in der Deutschen Ertaubtengemeinschaft. Überhaupt konnten wir immer wieder unsere Kenntnisse und Erfahrungen als Hörbehinderte mit Hörbehinderten in die verschiedenen Gespräche einfließen lassen. Es dürfte die meisten meiner Leser aus der Hörbehindertenszene nicht überraschen, daß man feststellen muß, daß die meisten Fachleute nicht sehr viel von den Selbsthilfegruppen, Vereinen und Verbänden der Hörgeschädigten und deren Arbeit wissen. Leider!
Es war in den Tagen der SP-Anpassung sehr wichtig für mich, daß wir während der Termine die Möglichkeit hatten, Freiburg und Umgebung zu erkunden. Erstens mußte es sein, um das Neue Hören bei unterschiedlichen Geräuschkulissen zu üben und zu lernen. Zweitens freute ich mich, wieder einmal in Freiburg zu sein und auch darüber, daß Freiburg für mich eine vollkommen neue und wichtige Bedeutung erhalten hat. Ich habe von 1967 – 1969 südlich von Freiburg gearbeitet und bin daher mit dem Breisgau und dem Markgräfler Land vertraut. Das Wetter war zwar kalt, aber tagsüber freundlich und sonnig. Wir durchstreiften die Metropole des Breisgaues zu Fuß, mit Bus und Straßenbahn. Höhepunkt war unsere Fahrt mit der Gondelbahn zum Schauinsland hinauf. Aus 1220 Meter Höhe geht der Blick weit über die Stadt, die Rheinebene, zum Kaiserstuhl und zu den Vogesen.
Am 16. Oktober, nachmittags, ging es nach Leonberg zurück. Und am 17. Oktober fuhr Elisabeth wieder nach Hause in den Rheingau. An dieser Stelle möchte ich mich dafür bedanken, daß ich ihre sachkundige und freundschaftliche Hilfe in Anspruch nehmen durfte. Und dieser Dank gilt auch ganz besonders Elisabeths Familie, die fünf Tage ohne sie auskommen mußte. Aber so eine private Audiologin und Audiotherapeutin ist schon etwas schönes. Ich empfehle dringend allen CI-Aspiranten zur Anpassung des Sprachprozessors eine Begleitperson mitzunehmen. Sonst tappt man orientierungslos in der Flut der neuen Geräusche. Dies gilt auch für die weiteren Anpassungen, die in immer länger werdenden Abständen folgen.
Nun sind wieder einige Tage vergangen. Ich habe mir bis zum Monatsende Urlaub genommen. Das ermöglicht es mir, wahlweise in die Welt der Töne und Geräusche zu gehen oder mich zurückzuziehen um mich davon zu erholen. Ich habe sogar schon am Fernseher Musik angehört. Eigentlich dürfte es das gar nicht geben. Aber wenn nicht durcheinander gesungen und gespielt wird, habe ich durchaus den Eindruck von Musik und nicht von Kreissäge. Das klappt also zum Beispiel, wenn ein einzelner Sänger von einem Klavier begleitet wird. Aber ein komplettes Symphonieorchester mit Chor ist für mich bzw. für mein CI einfach (noch) zu viel. Das wird auch kaum besser werden. Trotzdem darf man versuchen, nach den Sternen zu greifen. Vorerst bin ich jedoch froh und dankbar, daß ich im Sprachbereich Fortschritte mache. An meinem Arbeitsplatz habe ich mich schon probeweise „herumgehört". Das hörte sich recht vielversprechend an. Die Fortsetzung folgt im Nov.
Im Urlaub verbrachte ich 5 hörerlebnisreiche Tage im Rheingau inmitten von Elisabeth Kuglers Familie. Auf dem Land gibt es viel unterschiedlichere Geräusche als der monotone Verkehrslärm in der Stadt. Ich hörte vieles, was ich schon lange nicht mehr hörte. Ja, manchmal gibt es Hörerlebnisse, die ich noch nie hatte, oder die ich schon ganz vergessen habe. Ich zähle einmal ein wenig wahllos auf: Tau, der am nebeligen Herbstmorgen von Blatt zu Blatt eines Baumes fällt, Knistern und Prasseln eines offenen Feuers im Garten, das Geschrei der Hühner und Gänse nebenan, das Rascheln des Laubes auf dem Boden und Nieselregen auf dem Regenschirm.
Elisabeth arbeitet noch aktiv in der Hörgeschädigten-Szene. Sie ist die Seele einer kleinen aber feinen Hörgeschädigten-Selbsthilfegruppe im Rheingau-Taunus-Kreis. Für diese SHG übernahm sie am Sonntagmorgen die Standbetreuung der Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfegruppen im Rheingau-Taunus-Kreis anläßlich des „Gesundheitstages" in Bad Schwalbach. Und ich mußte natürlich mit. Ich nutzte die Gelegenheit unter normalen Bedingungen - also ohne weitere technische Hilfen - einem Vortrag zu folgen. Zu meinem Erstaunen konnte ich eine Menge verstehen. Manchmal schaffte ich es aber nicht, den Sinnzusammenhang zu kombinieren. Für den Anfang war dies aber ein gutes Ergebnis. Obendrein nutzten wir die Gunst der Stunde um im Beisein von Frau Graffe vom Kreisgesundheitsamt mit dem Landrat des Kreises – Herrn Röttger - zu diskutieren. Da ließ ich es mir natürlich nicht nehmen, ihm das Cochlea-Implantat zu zeigen und zu erklären. Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung bei Politikern ist immer gut!
Nun möchte ich mich bei meinen Leserinnen und Lesern noch für die interessierte Aufmerksamkeit bedanken. Selbstverständlich freue ich mich auf Echos. Aber es soll sich niemand dazu verpflichtet fühlen.
Der Herbst hat uns jetzt fest im Griff. Nicht nur ein heißer Sommer ist hinter uns, sondern für mich auch ein großer, weil wichtiger Sommer. Er hat mir das Neue Hören gebracht. Deshalb kann ich mit Rilkes Herbstgedicht sagen:
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los...
Ein dankbarer und froher CI-Träger wünscht Ihnen/Euch allen, liebe Leserinnen und Leser, eine beschauliche Herbstzeit und allezeit gutes Hören.
Dieter F. Glembek
Oktober 2003
Riedstraße 8, 71229 Leonberg
Telefax: 07152 – 75173