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Schwerhörigkeit/Taubheit und Depressionen

Seit meiner Geburt 1960 bin ich links Tieftonschwerhörig und rechts taub. Die Ursache ist bis heute nicht geklärt, spielt aber auch keine Rolle. Ich wurde in einer Zeit geboren in der das Thema Inklusion keines war. Sicher kannte man auch das Wort noch nicht. Meine Eltern mussten mit der Einschulung entscheiden welche Schule ich besuchen soll. Eine ganz normale Volksschule oder eine Schule für Hörbehinderte. Für meine Eltern stellte sich diese Frage nicht. Ihr Kind hat doch keine Behinderung. Also kam ich in die Volksschule und musste von da an immer in der ersten Reihe sitzen. So konnte ich auch sehr gut Lippen lesen. Da ich seit meiner Geburt darauf trainiert war viele Dinge mit den Augen oder an die Situation angepasst aufzunehmen fiel die Behinderung kaum ins Gewicht. Ich machte Abitur und schloss zwei Berufsausbildungen ab, die beide mit viel Kommunikation mit anderen Menschen verbunden waren.

Erst spät, ca. in den Neunzigern, beschäftigte ich mich mit möglichen technischen Hilfsmitteln, um meine Kommunikationseinschränkungen abzufangen bzw. zu mildern. Die ersten Versuche waren eine Katastrophe und ich lehnte weitere technische Unterstützung ab. Es funktionierte ja auch so. Einige Jahre später bekam ich dann ein Hörgerät, das mich wirklich unterstützte. D.h. auf der schwerhörigen Seite links bekam ich nun dank des Hörgerätes sämtliche Geräusche und Stimmen verstärkt. Die Kommunikation wurde deshalb nicht leichter für mich, da ich immer noch nur einen Kanal zur Verfügung hatte. Ich hatte aufgrund der Taubheit rechts nur eben die linke Seite um zu kommunizieren. In jungen Jahren war es mir nie bewusst, welche Anstrengungen für mich und meinen Körper damit verbunden waren. Ganz im Gegenteil – ich habe mir im Laufe der Zeit immer mehr aufgebürdet. Ich war von meinen Eltern mit dem Vorsatz erzogen worden, dass meine Hörbehinderung eigentlich keine richtige Behinderung ist.

Weitere Mankos der Hörbehinderung fielen im Zusammenhang mit Kommunikation nicht so ins Gewicht. Das war zum Beispiel das fehlende räumliche Hören. Dieses machte sich allerdings nachts im Dunkeln am meisten bemerkbar. Hörte ich ein Geräusch, konnte ich nicht erkennen was es war geschweige denn wo es herkam. Tagsüber bzw. im Hellen konnte ich dieses Defizit meist über die Augen abfangen.

Mit zunehmendem Alter fiel es mir immer schwerer in der Welt der Kommunikation mitzuhalten. Ich veränderte meine Kommunikationstaktik. Wenn alle lachten, lachte ich mit, ganz gleich ob ich die Sätze verstanden hatte oder nicht. Ich reagierte oft so wie es nach meinem Gefühl der Situation angepasst war. Wie oft lag ich da falsch, ich weiß es nicht. Diese Situationen strengten mich immer mehr an, sodass ich mich zumindest im privaten Bereich immer mehr zurück zog und vielen geselligen Zusammenkünften auswich. Beruflich war das nur in sehr begrenztem Maß möglich. Des Öfteren wurde ich dann als Einsiedler, die will nichts mit uns zu tun haben, abgestempelt.

Ein Zitat verdeutlicht treffend die Situation von Hörbehinderten im Alltag:

Nicht Sehen können trennt von den Dingen.
Nicht Hören können trennt von den Menschen.

Immanuel Kant

Als ich dann 2015 auf der tauben rechten Seite mit einem Cochlea Implantat versorgt wurde, dachte jeder, dass ich nun wieder vollkommen normal höre. Weit gefehlt. Eine Hörprothese (und nichts anderes ist ein solches Implantat) ersetzt nicht das normale Hören. Doch die Mitmenschen konnten das nicht nachvollziehen, wie auch. Für sie ist Kommunikation ein großer und wichtiger Bestandteil ihres täglichen Lebens. 80% ihrer Energie verbrauchen Menschen mit Kommunikation. Ich dagegen benötige wahrscheinlich eher 150%.

Telefonieren ist inzwischen fast ein Tabuthema für mich. Beim Telefonieren habe ich keine Chance das gesprochene Wort mithilfe von Lippenlesen zu verstehen. Nach dem ich mich privat so gut es ging von allem fernhielt was mit vielen langen und verschiedenen Gesprächen zu tun hatte, begann dieser Prozess auch im beruflichen Alltag überhand zu nehmen. Hier kam erschwerend hinzu, dass die räumlichen Gegebenheiten mir die Kommunikation weiter erschwerten. Unterstützung und Hilfestellungen durch den Arbeitgeber fehlten in fast allen Bereichen. Ich machte meinen Job und vermied so weit möglich jeden Kontakt, der mich in ein längeres Gespräch verwickeln könnte.

An diesem Punkt angekommen zog ich mich immer weiter von meiner Familie und Kollegen zurück. Es wurde ziemlich einsam um mich herum. Der Stress hatte mich voll im Griff. An erholsamen Schlaf war kaum noch zu denken. Ich war ständig krank, gereizt, müde und antriebslos. Jede Art von „extra Aufgabe“, die mir übertragen wurde, war ein riesiger Berg für mich, den zu bewältigen ich mich nicht imstande sah, es aber dennoch probierte. Privat und beruflich war ich nicht mehr in der Lage einfachste Anforderungen zu erfüllen. Die Spirale drehte sich immer weiter abwärts.

Erst ein Zusammenbruch bei meiner Hausärztin war der Wendepunkt. Sie redete mir ins Gewissen. Gespräche mit einem Psychotherapeuten zeigten mir auf, wie es um mich stand. Schwere Depressionen hatten mich in ihrer Gewalt. Nur mit Gesprächen und Antidepressiva bin ich inzwischen einigermaßen stabil geworden. An arbeiten ist im Moment nicht zu denken. Der Körper forderte Tribut für den Raubbau, den ich jahrelang betrieb. Konzentrationsstörungen sind eine weitere Folge davon. In den ersten Monaten nach der Diagnose haderte ich mit mir selbst. Lag oft nur auf der Couch und starrte die Decke an. Ich und eine Depression, das wollte ich nicht wahr haben. Nur ganz langsam gestand ich mir meine Krankheit ein. Als ich es endlich akzeptiert hatte, waren auch die Gespräche mit dem Psychotherapeuten erfolgreich.

Inzwischen gestalte ich mein Leben, meinen Alltag, so wie es mir hilft. Ein ganz großer Rückhalt war in dieser Zeit mein Mann. Auch er verzweifelte fast an dieser Situation, kam sich so hilflos vor. Auch meine Beteuerungen er würde mir allein durch seine Anwesenheit und Geduld helfen, konnten ihn nicht beruhigen. Unser gemeinsames Hobby das Tanzen hat mir in dieser Zeit viel Kraft gegeben. Abschalten und von der Musik treiben lassen, tat mir gut. Parallel dazu hatte ich dann im Hörtraining auch deutlich messbar mehr Erfolge.

Dann kam eine Phase, in der ich merkte, wie sehr mir eine Hundenase fehlte. Ich hatte jahrelang Hunde und konnte aufgrund der beruflichen Gegebenheiten keinen Hund mehr betreuen. So begann ich fast täglich Spaziergänge mit Hunden in einem Tierheim zu machen. Irgendwann bekam ich einen kleinen, aber wilden Mix zum Spazierengehen. Ich habe mich sofort in diesen Hund verliebt. Schnell merkte ich wie gut mir die Spaziergänge mit diesem Hund taten. Lange Rede kurzer Sinn, inzwischen ist der Hund ein Familienmitglied geworden. Anfangs spürte ich wieder eine kurze Zeit die Überforderung. Doch schon nach ein paar Tagen hatte ich mich mit dem neuen Rhythmus in meinem Leben arrangiert.

Ich gehe sehr offensiv mit meiner Erkrankung um. Auch in der Selbsthilfegruppe für Schwerhörige und CI Träger in Darmstadt habe ich durch den offenen Umgang damit erfahren, dass ich mit dem Problem nicht alleine stehe. Viele die mich kennen hätten nie gedacht, dass mich eine Depression irgendwann mal im Griff haben könnte. Ich wäre doch immer so taff und zupackend gewesen. Stimmt, aber ich bezahle jetzt dafür. Noch rechtzeitig hat meine Ärztin mir ins Gewissen geredet und ich bin den notwendigen Schritt zu einer psychologischen Behandlung gegangen. Dies hat sicher den totalen Absturz verhindert.