Ein Leben ohne Cochlea Implantat – für mich unvorstellbar
Von Johannes Gebhardt

Anders als viele andere Berichtschreibende bin ich mit dem Cochlea Implantat (CI) aufgewachsen und kann mir ein Leben ohne nicht vorstellen. Das wiederum führt aber auch dazu, dass ich an meine erste CI-OP keine Erinnerungen mehr habe und hier auf Befragung meiner Eltern angewiesen war. Alles begann schon sehr früh.
Meine Mutter erinnert sich: Bei der Geburt von Johannes im März 1999 gab es noch kein Neugeborenen-Hörscreening. Bei den U-Untersuchungen hatte man ein Heft, in dem man ankreuzen konnte, wie man das Hörvermögen des Kindes einschätzt. Das war bei Johannes schwierig. Er hatte als Säugling starke Neurodermitis und wir waren uns immer nicht sicher, hat er es nicht gehört, weil er durch Kratzen abgelenkt war oder stimmt wirklich etwas nicht mit seinem Gehör?
Der Kinderarzt wollte uns zwar vertrösten „das wird schon noch“, aber wir wollten Sicherheit. Deshalb wurden wir an die Uniklinik in Erlangen verwiesen. Dort am Bohlenplatz bekamen wir dann im November 1999 die Diagnose. Von einem sehr überheblichen Arzt bekamen wir gesagt: „So wie sie eine Brille tragen, wird ihr Sohn sein Leben lang Hörgeräte tragen.“ Diesen Moment werden wir nie vergessen. Das ganze Leben, dass man sich für sein Kind vorgestellt hat, kracht wie ein Kartenhaus zusammen. Aber es half ja alles Jammern nichts, der Termin für die Hörgeräte-Anpassung wurde vereinbart. Es war für mich eine der schlimmsten Wochen meines Lebens: Verschiedene Hörgeräte wurden getestet. Schon die Abdrücke für die Ohrpass-Stücke waren eine Katastrophe. Johannes verstand nicht, was man von ihm wollte. Die Nächte in der fremden Umgebung mit anderen Müttern und Kindern in einem kleinen Zimmer waren nicht besser. Froh und auch zuversichtlich, konnten wir nach ein paar Tagen mit Hörgeräten, die die beste Hörkurve brachten, wieder nach Hause. Jetzt ging es aber erst richtig los. Wir redeten viel mit Johannes und beobachteten, ob er auf unsere Stimmen oder Umgebungsgeräusche reagiert. Ich fand nicht, dass die Hörgeräte ihm viel brachten. Beim Kontrolltermin in Erlangen kam dann auf einmal das Cochlea Implantat zur Sprache, da Johannes Hörkurve für Sprachverstehen nicht ausreichte. Er war an Taubheit grenzend schwerhörig. Man hat uns dann das CI und seine Funktion erklärt. Nicht wirklich klüger gingen wir nach Hause. Ich muss noch erwähnen, dass wir damals ans Zentrum für Hörgeschädigte in Nürnberg verwiesen wurden. Hier wurden wir vorstellig und Johannes bekam Frühförderung. Das heißt, wir sind einmal in der Woche nach Nürnberg gefahren. Die Damen in der Frühförderung waren alle sehr kompetent und freundlich. Aber das Thema CI stand immer noch im Raum. Ich muss vielleicht auch noch dazu sagen, dass wir uns auch mit Gebärden beschäftigt haben. Es gab die Möglichkeit im Zentrum für Hörgeschädigte Gebärdenkurse zu besuchen. Allerdings ist Johannes nie richtig auf die Gebärden angesprungen. Wir hatten Alltagsgebärden, die wir teilweise heute noch benutzen, wenn er keine CIs trägt (was bei ihm eigentlich nur nachts der Fall ist), aber wir haben nie richtig in Gebärdensprache kommuniziert.
Ich hatte dann in der Apothekenzeitung „mein Baby“ (oder so ähnlich) eine Anzeige geschaltet: „Wer hat Erfahrungen mit Cochlea Implantaten bei Säuglingen u. Kleinkindern?“ Und dann kam eine Flut an Briefen: manche total begeistert vom CI, manche haben total abgeraten. Mit einigen habe ich mich dann in Verbindung gesetzt. Zu einer Familie aus Oberbayern haben wir heute noch Kontakt. Deren Sohn war so alt wie unser Johannes. Wir haben uns immer gegenseitig Mut gemacht, wenn es mal nicht so gut lief und unsere Erfahrungen ausgetauscht. Schließlich haben wir uns dann für eine CI-OP entschieden. Allerdings in der Uniklinik Regensburg, da ich als Mama irgendwie ein „Erlangen-Trauma“ hatte. Bei Johannes wurde im Mai 2000 der Hörnerv untersucht, ob dieser überhaupt funktionierte. Sonst wäre das Thema CI schon erledigt gewesen. Es war aber alles in Ordnung. Damals war es noch so, dass der Professor in Regensburg Kinder erst mit 1,5 Jahren implantiert hat. Heute macht man die OP ja schon mit ein paar Monaten. Also nochmal warten. Im September war es dann soweit. Alle waren wir aufgeregt.
Im Krankenhaus haben wir eine Familie mit einem kleinen Mädchen getroffen. Auch sie sollte ein CI bekommen. Beide Kinder wurden dann am gleichen Tag implantiert: zuerst Johannes, dann Sophie. Auch zu dieser Familie haben wir bis heute Kontakt. Damals sind wir die Krankenhausflure entlanggewandert und die CI-Reha haben wir immer zusammen in Straubing gemacht. Das war immer ein schöner Treffpunkt für die Kinder, aber auch für uns Eltern. Wir sind gerne hingefahren. Mein Fazit heute: Wir haben damals alles richtig gemacht. Mittlerweile sind die Kliniken nochmal viel weiter, vor allem auch, was die OP-Technik betrifft. Johannes hat zwei große Narben rechts und links am Kopf. Mittlerweile implantiert man ganz anders. Für mich war der Austausch mit anderen Eltern sehr wichtig. Denn da erfährt man auch mal, wenn etwas nicht so gut gelaufen ist.
Mit CI ging es für mich zuerst ein Jahr in den Sprachheilkindergarten bei uns in der Nähe. Während der Zeit war ich immer noch einmal die Woche in der Frühförderung am Zentrum für Hörgeschädigte. Leider ging es mit der Sprache nicht so schnell voran, aber irgendwann hat man gemerkt, dass ich trotzdem ganz viel verstehe. Dann bin ich mit 3 ½ Jahren an die SVE (Schulvorbereitende Einrichtung) nach Nürnberg gewechselt. Das hieß früh aufstehen, da man mit dem Bus noch andere Kinder „einsammeln“ musste. Montags wurde ich bereits um 5.30 Uhr abgeholt. Für kleine Kinder war das schon eine Tortur. 2005 wurde ich an eben jenem Zentrum für Hörgeschädigte in Nürnberg eingeschult. Eigentlich sollte ich in eine Klasse der Sprachlerngruppe II (lautsprachliche Kommunikation) kommen.


Es stellte sich dann aber schnell heraus, dass mein Lehrer dachte, er unterrichtet eine Klasse der Sprachlerngruppe III (mit Einsatz von Gebärden). Dementsprechend einfach waren der Unterricht und die Unterrichtsthemen gehalten. Es wurde nicht mit Büchern unterrichtet, sondern es gab nur vom Lehrer vorbereitete, anspruchslose Arbeitsblätter. Damit war ich aber völlig unterfordert und wer weiß, wie mein weiterer Weg gewesen wäre, wenn meine Mutter nicht die Initiative ergriffen und sich dafür eingesetzt hätte, dass ich in der offenen Klasse (d.h. Hörgeschädigte und Normalhörende lernen zusammen) schnuppern kann.
Hier möchte ich als Mama nochmal etwas einfügen: Dadurch, dass Johannes spät in die Sprache kam, schlecht Blickkontakt halten konnte und sich manchmal auch zurückzog, ist er bei der Schulpsychologin aufgefallen. Auch wenn seine Tests (da gab es einige am Zentrum) was Intellekt, Wortschatz usw. immer überdurchschnittlich waren, hatten sie uns tatsächlich vorgeschlagen, ob er nicht vielleicht in die Einrichtung nach Zell (Förderzentrum Hören u. weiterer Förderbedarf) gehen sollte. Wir sind aus allen Wolken gefallen und ich darf gar nicht darüber nachdenken, was aus Johannes geworden wäre, wenn wir immer das getan hätten, was Schule/Psychologin vorgeschlagen haben. Ich kann mich noch erinnern: eine Frühförderin sagte mal zu mir: Johannes habe ihr gezeigt, dass man Kinder nicht vorschnell in eine Schublade stecken darf.
Es sollte allerdings nicht nur beim Schnuppern bleiben und ich blieb bis zum Ende der Grundschulzeit in der offenen Klasse. Da hatte ich bereits seit Dezember 2007 links mein zweites CI. Am Anfang war ich etwas skeptisch gegenüber einem zweiten CI. Auch meine Eltern haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und sie fuhren mit mir u.a. nach Hannover, um eine Entscheidungshilfe zu erhalten. Und tatsächlich blieb es bis zuletzt spannend, denn am Abend vor dem OP-Termin hatte ich auf einmal Fieber. Am anderen Tag, dem 17. Dezember 2007, konnte die OP, wie die erste ebenfalls in Regensburg, dann aber doch stattfinden. Sie verlief gut und ich konnte danach schon ein Mittagessen zu mir nehmen.

Nach der Grundschule stellte sich die Frage, wie es nun weitergehen sollte. Am Ende entschieden wir, dass ich es einmal auf dem Regel-Gymnasium bei uns in der Nähe probieren sollte (alle hatten eigentlich davon abgeraten). Das Fazit nach acht Jahren Gymnasium und mit einem Abi-Schnitt von 1,8: Hätten wir gewusst, dass es so gut läuft, hätte ich auch schon auf die Regel-Grundschule bei uns in der Gemeinde gehen können. Daher unser Rat: Es lieber erst einmal auf der Regelschule vor Ort ausprobieren. Ich hatte allerdings viele verständnisvolle Lehrer am Gymnasium, später kam auch ein sehr offener neuer Schulleiter. An technischen Hilfsmitteln habe ich an der Regelschule eigentlich nur die FM-Anlage bis zur 8. Klasse und später vereinzelt benutzt. Für die Schulaufgaben in den Sprachen (Englisch, Spanisch) hatte ich einen Nachteilsausgleich und in Sport war ich von der Notengebung befreit. Gleichwohl mussten wir einmal unseren zuständigen MSD (= Mobiler Sonderpädagogischer Dienst) in die Schranken weisen, als man in Nürnberg meinte, hier intervenieren zu müssen, obwohl das nicht notwendig war. Auch das gehört dazu, dass man selbst am besten weiß, was man braucht und was nicht. Nach meinem Abi besuchte ich das Sommerfest meiner alten Grundschule in Nürnberg und alle waren erstaunt über meine Entwicklung.

Wie sollte es jetzt nach dem Abi für mich weitergehen? Es lief ziemlich schnell auf ein Studium hinaus. Davor hatten auch meine Eltern etwas Respekt, denn erstens CI’s und zweitens hatte zuvor noch niemand aus meiner Familie studiert. Es folgten mehrere Termine bei der Studienberatung in Erlangen, wobei ich auch hier einen Nachteilsausgleich erhielt.
So konnte ich im Herbst 2017 mein Studium des Zweifachbachelors Geschichte/Kulturgeschichte des Christentums beginnen. Anders als in der Schule brauchte ich den Nachteilsausgleich an der Uni eigentlich nicht und später im Master hatte ich gar keinen mehr. Ich setzte mich, wie schon in der Schule, immer in die erste Reihe und konnte so gut folgen. Allerdings hatte ich den Vorteil, dass ich weiterhin daheim wohnen konnte und ich mich so nicht mit der Wohnungssuche und dem Gewöhnen an eine neue Umgebung auseinandersetzen musste. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich die Corona-Zeit verhältnismäßig gut überstanden habe; hier war die Wohnlage auf dem Land wirklich Gold wert.
Auch das Online-Studium habe ich akustisch gesehen verhältnismäßig gut bewältigt. So stand nach dem Ende des Bachelorstudiums einem Masterstudium der Geschichte nichts mehr im Weg, das ich 2023 beendete. Jetzt stellte sich wieder die Frage, wie geht es weiter? Nach einigen Bewerbungsgesprächen in der näheren Umgebung, aber auch weiter weg (Ravensburg, Marburg), fing ich im Februar 2024 als Projektmitarbeiter im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg an. Die Arbeit macht mir viel Spaß, ich bin im Außendienst in ganz Bayern unterwegs und werde von meinen Kollegen mit meiner Hörbeeinträchtigung vollkommen akzeptiert.
Seit 2022 bin ich 2. Vorstand von HörEnswert e.V., einem Verein für junge Menschen mit Hörhandicap in Nordbayern (https://www.hoerenswert.org/). Eigentlich stand ich Selbsthilfegruppen lange Zeit reserviert gegenüber, aber dann gingen eine Bekannte und ich Ende 2017 doch einmal auf eine Veranstaltung von HörEnswert in Nürnberg, nachdem unsere Mütter uns das lange genug eingeredet hatten, und zu zweit ist man nicht allein.
Es blieb allerdings nicht bei einer Veranstaltung und schon im Jahr darauf wurden wir Mitglieder. Wir haben viele unterschiedliche Veranstaltungen im Jahr, wo man immer wieder neue Leute kennenlernt. Es ist auch schön, dass ich so meine Erfahrungen, sei es Schule, Uni, CI-Versorgung, an andere weitergeben kann.
Von Johannes Gebhardt
September 2025