Der Weg einer gehörlosen Frau
Heather Elizabeth Green
An einem Sonntagabend zeigten Missionare Dias von einem fernen Land und erzählten von ihrer Arbeit. Unter den Menschen, die zu diesem Vortrag gekommen waren, befand sich auch ein sechsjähriges Mädchen. Als die Kleine die Bilder sah, die der Projektor an die Wand warf, wusste sie plötzlich: „Ich werde Missionarin!" Soweit sie es in ihrem Alter begreifen konnte, war ihr klar, dass es sich dabei um einen lebenslangen Dienst handelte. Doch sie hatte keine Ahnung, wohin sie diese Entscheidung einmal führen und welche Schwierigkeiten auf sie zukommen würden. Denn das Mädchen war gehörlos.
Als ich vier Jahre alt war, verlor ich achtzig Prozent meines Gehörs, zwei Monate vor meinem dreizehnten Geburtstag dann den Rest. Die Ursache davon war wahrscheinlich beides Mal eine negative Reaktion auf bestimmte Medikamente. Es geschah alles ganz plötzlich. Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich ein ausgesprochen liebes Kind war und immer sofort gehorchte, wenn sie mich riefen. Deshalb können sie auf die Minute genau sagen, wann ich als kleines Mädchen mein Gehör verlor. Denn plötzlich reagierte ich nicht mehr. Rückblickend kann ich sagen, dass ich praktisch mein Leben lang gehörlos war. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, mit seinen natürlichen Ohren zu hören.
Träume in die Schublade gelegt
Meine Eltern haben auf diese Krise mit sehr viel Glauben reagiert. Bestimmt haben sie auch manchmal geweint, denn die Situation war nicht einfach für sie. Aber solange ich denken kann, waren sie davon überzeugt, dass Gott mich heilen würde. Diesen Glauben haben sie auch in mich hineingelegt. Ich erinnere mich, dass ich manchmal nachts wach wurde und merkte, wie mein Vater an meinem Bett stand und für mich betete. Ich wusste immer, dass meine Eltern mich lieb hatten, um mich besorgt waren und Gott im Hinblick auf meine Zukunft vertrauten - auch auf das, was sie nicht verstanden.
Vom Kindergarten bis zur dritten Klasse besuchte ich eine christliche Schule, danach wurde ich von meiner Mutter zu Hause unterrichtet. Ich weiß noch, wie ich mich als Teenager fragte: „Kann ich jemals auf die Universität gehen?" und „Wie soll ich überhaupt Missionarin werden?" Ständig war ich darauf angewiesen, dass andere für mich sorgten und mich über alles informierten. Wenn wir als Familie vorhatten, am Nachmittag wegzufahren, und sich an diesen Plänen etwas änderte, mussten mir meine Eltern das von Auge zu Auge mitteilen. Viele Menschen wissen gar nicht, wie viel von dem, was sie hören, unbewusst geschieht. Sie hören etwas und merken es nicht einmal. Auf diese Weise erhalten sie die meisten Informationen. Ich dagegen war darauf angewiesen, dass ich von anderen über alles auf dem Laufenden gehalten wurde.
Gehörlosigkeit ist eine sehr versteckte Behinderung. Wer einen Blinden sieht, erkennt an seinen Augen oder seiner dunklen Brille, dass er blind ist. Wer einen Gelähmten sieht, weiß sofort, dass er nicht laufen kann. Aber da viele Menschen Gehörlosigkeit meist nicht von außen wahrnehmen, stellen sie Erwartungen an einen, denen man nicht gerecht werden kann.
Nach meinem letzten Gehörverlust kam es mir vor, als seien all meine Zukunftspläne zerstört. Wenn ich zurückdachte, sah ich die vielen Missionare vor mir, die bei meiner Familie zu Besuch gewesen waren. Und ich erinnerte mich, dass sie alle gut hören konnten, denn das war wichtig, um eine fremde Sprache zu erlernen.
Neue Hoffnung reifen lassen
Einige Monate später schien mich beim Bibellesen ein Vers regelrecht anzuspringen. „Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr's empfangen" (Matthäus 21,22). Ich merkte, wie Gott zu meinem Herzen sprach: „Heather, wenn du glaubst, dass ich dich heilen werde, werde ich es tun. Aber du musst glauben." So fing ich an, Gott zu vertrauen, dass er mich heilen und mir eines Tages mein Gehör zurückgeben würde.
Kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag erzählten mir meine Eltern dann von einem Cochlea-Implantat. Das ist ein kleines, flaches Gerät - ungefähr in der Form einer Birne -, an dessen Ende 22 Elektroden sitzen. Diese werden in die Cochlea, einen Teil des Innenohrs, implantiert. Der Ton geht nun durch ein von außen ins Ohr eingesetztes Mikrofon zu einem Sprachprozessor, der sich ebenfalls im Ohr befindet. Dieser Sprachprozessor verarbeitet Töne zu elektronischen Signalen und leitet sie weiter zu einem Magneten, der durch die Haut hindurch mit dem Implantat magnetisch verbunden ist. Die Töne gehen also durch das Implantat, werden als Signale an das Gehirn weiterleitet und dort in Töne rückübersetzt, wie sie Menschen normalerweise hören.
Als meine Eltern zum ersten Mal mit mir über das Cochlea-Implantat sprachen, erklärten sie mir, dass niemand genau wüsste, wie gut ich damit hören könnte. Auf jeden Fall würde man schrille Töne wie von einem Rauchmelder wahrnehmen. Was darüber hinausging, hing von dem einzelnen Menschen ab. Doch ich hatte mir meine Meinung bereit gebildet: Wenn Gott mich heilen würde, dann auf übernatürliche Weise und nicht mit Hilfe eines von Menschen erdachten Geräts. Aber meine Eltern baten mich, darüber nachzudenken und zu beten, und ich versprach es ihnen. Ungefähr einen Monat später wusste ich ganz tief in meinem Herzen: „Gott will, dass ich dieses Implantat bekomme!"
Ich selbst wollte das eigentlich nicht, denn ich hatte schreckliche Angst vor Spritzen, Krankenhäusern – überhaupt allem, was mit Ärzten und Medizin zu tun hatte. Doch ich hatte das Gefühl, dass Gott mich einem Test unterziehen wollte, um festzustellen, ob ich gehorsam war.
Als der Operationstermin näher rückte, wusste ich ganz deutlich, dass ich mir drei Ziele setzen solle: Telefongespräche zu führen, Gesprochenes zu verstehen, ohne es von den Lippen abzulesen, und Musik zu hören und sie auch zu genießen. Keines dieser drei Dinge war mir mehr möglich gewesen, seit ich vier Jahre alt war.
Ein neuer Ton im Leben
Einen Monat nach der Operation fingen meine Mutter und ich mit den Übungen an. Sie sagte etwas zu mir, und ich wiederholte, was sie meiner Meinung nach gesagt hatte. Dann ging sie in ein anderes Zimmer und sagte etwas anderes, da ein Ton auf unterschiedliche Art und Weise durch die Räume geleitet und dabei oft stark verzerrt wird. Das menschliche Ohr wird ganz natürlich damit fertig, aber das Implantat kann das nicht. Deshalb mussten wir Situation und Umgebung ständig verändern und immer wieder Neues ausprobieren.
Nach fünf Tagen war ich imstande, alles zu verstehen, was mir meine Mutter vorlas oder zu mir sagte. Innerhalb von zehn Tagen konnte ich Telefongespräche führen, Musik hören und Gesprochenes verstehen, ohne es von den Lippen abzulesen. Nach drei Wochen kam meine Audiologin zu einer Routineuntersuchung zu uns nach Hause. Sie sagte, dass sie noch nie jemanden gesehen hätte, der von Anfang an so gut mit einem Cochlea-Implantat hören konnte. Ich erklärte ihr, dass Gott am Werk sei, um seinen Plan in meinem Leben zu erfüllen. Das Gleiche erzählte ich auch meinem Hausarzt und vielen anderen Menschen, die mich nach meinen Erfahrungen fragten. Oft meinen wir, wenn irgendetwas von Menschen hergestellt wird, hat es nichts mit Gott zu tun. Aber selbst mit diesem künstlichen Gerät in meinem Ohr erwies er sich als der Allmächtige. Ich konnte zwar üben, konnte mit meiner Mutter und meinem Vater daran arbeiten - aber nie hätte ich aus eigener Kraft so schnell so gut hören können. Für gewöhnlich dauert es Jahre, bis jemand mit einem Implantat an den Punkt kommt, an dem ich bereits nach wenigen Tagen war. Mir war klar, dass ich das nur Gott allein verdankte.
Klare Wegweisung
Nun rückte mein Traum, Missionarin zu werden, wieder in greifbare Nähe. Bereits als kleines Mädchen hatte ich mich sehr für andere Länder interessiert. Jeden Morgen hatte meine Familie zusammengesessen, aus einem Missions-Jahrbuch gelesen und für ein bestimmtes Land gebetet. Ich erinnere mich besonders an meine Gebete für Osteuropa und Russland. Schon damals war ich davon überzeugt gewesen, dass der Kommunismus in diesen Ländern eines Tages zusammenbrechen würde.
Als dann 1990 das kommunistische System in Osteuropa und der Sowjetunion tatsächlich fiel, freute ich mich sehr. Ich weiß noch, wie ich Gott unter Tränen darum bat, dass die Christen in diesen Ländern Kirchengebäude bekämen und ihm in Freiheit dienen könnten. Ich hatte das Gefühl, dass Gott mir eine ganz besondere Liebe für die Menschen in diesem Teil der Welt geschenkt hatte.
Eine weitere Richtungsweisung für meine Zukunft bekam ich im letzten Semester an der Universität. Ich hielt mich gerade in der Bibliothek auf, als der Bibliotheksleiter, ein pensionierter Missionar, auf mich zukam und sagte: „Heather, wie wäre es, wenn du nach Kiew in der Ukraine gehen würdest? Sie brauchen dort jemanden, der in der Bibliothek des Bibelseminars arbeitet."
Sobald er das gesagt hatte, wusste ich tief in meinem Herzen, dass ich dorthin gehen sollte. Denn nie zuvor hatte ich mit ihm über meine Liebe zu Osteuropa gesprochen.
Ich schrieb meinen Eltern eine E-Mail und erzählte ihnen von meinen Plänen. Sofort antworteten sie, wie begeistert sie darüber seien. Sie hätten bereits gewusst, dass Gott mich in den ersten Jahren meines Missionsdienstes in diesem Teil der Welt haben wollte.
Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen
Seit acht Monaten bin ich jetzt auf der Sprachschule in Kiew. Russisch ist eine sehr schwierige Sprache, unter den Hauptsprachen gilt sie als die viertschwerste der Welt. „Wie soll ich diese Sprache nur jemals lernen?", habe ich mich anfangs gefragt. Ich erinnere mich, wie ich nach ungefähr vier Wochen in der Sprachschule plötzlich überwältigt davon war, wie gut ich Russisch lernen konnte. Ich hatte geglaubt, es sei unmöglich, aber das war es nicht. Ich musste nur einen Schritt nach dem anderen tun und jeden Tag ein bisschen mehr aufnehmen. Wenn Gott uns zu etwas beruft, gibt er uns auch das nötige Rüstzeug. Mich hat er mit einem Gehör ausgestattet, damit ich Russisch lernen kann.
Mein Herz schlägt vor allem für die Frauen in der Ukraine. In diesem Land liegt die Scheidungsrate bei fast hundert Prozent. Ganz wenige Familien haben mehr als ein Kind, und die Zahl der Abtreibungen ist enorm hoch. Ich spüre, dass viele Frauen sehr verletzt sind. Und ich wünsche mir, Beziehungen zu ihnen aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Inzwischen hat mir Gott schon viele Türen zum Dienst geöffnet. Ich wurde eingeladen, in einer ukrainischen Kirche zu sprechen und in der Bibelschule zu lehren. Ich glaube, dass ich einen Weg für ukrainische Frauen ebnen soll, damit sie in Zukunft in ihrer Gesellschaft an Ansehen gewinnen und ihre Stimme gehört wird.
An der Hoffnung festhalten
Im Nachhinein muss ich sagen, dass meine Eltern bei meinen Plänen, in den Missionsdienst zu gehen, eine sehr große Rolle gespielt haben. Das Beeindruckendste für mich war, dass sie mich losgelassen haben. Selbst als ich erst sechs Jahre alt war, haben sie es akzeptiert, dass ich Missionarin werden wollte. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je zu mir gesagt hätten: „Du schaffst das nicht!" Sogar nach dem kompletten Verlust meines Gehörs haben sie mich nie entmutigt.
Das Geheimnis, warum ich meinen Traum so lange verfolgen konnte, liegt darin, dass ich einen Tag nach dem anderen lebe. Natürlich habe ich Ziele, Pläne und Wunschvorstellungen, aber ich habe festgestellt, dass ich jeden Tag so nehmen muss, wie er kommt. Das trifft besonders auf Tage zu, an denen praktisch alles schief läuft und ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen möchte. Wenn ich mutlos bin, lese ich den Philipperbrief, denn er ermutigt mich, weiterzumachen und voranzugehen. Ich weiß, dass Gott mich durchbringen wird, und das ist für mich das Wichtigste. Mit seiner Kraft und Hilfe komme ich durch jeden Tag.
Aus Lydia - die christliche Zeitschrift für die Frau, Heft 3/2003. Mit freundlicher Genehmigung.