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Sieben Sinne bist Du mir wert!

Von Michaela Holzer  — www.marie-kann-hoeren.de

Es gibt da dieses Kinderlied über die Sinne des Menschen:

„Augen, Ohren, Nase, Zunge und die Haut. Alle meine Sinne, sie sind mir vertraut. Ich kann sehen, sehen, sehen, dazu sind die Augen da. Und ich sehe viele Dinge, dazu sind die Augen da. […] Ich kann hören, hören, hören, dazu sind die Ohren da. Und ich höre, höre, höre alle Töne hell und klar...“

Tja, wenn man als Mutter eines taub geborenen Kindes so ein Lied hört, dann können einem schon mal die Tränen kommen. Da wird einem so richtig der Vorschlaghammer vorgehalten, dass beim eigenen Kind nicht alles in Ordnung ist. Solche Momente gab es am Anfang viele: Die nett gemeinte Geste der Freundin, die zur Geburt eine Spieluhr schenkt. Die CD vom Kinderarzt mit Einschlafliedern. Für eine Familie, für die die Diagnose „angeborene Taubheit aufgrund einer pränatalen cmv-Infektion der Mutter“ gefühlt eine Welt zum Einstürzen brachte, ist das anfangs nicht so leicht, sondern einfach nur traurig, wenn Dein neugeborenes Baby nicht die Stimmen seiner Eltern hören kann. Wenn man ihm nachts nicht vorsingen oder es mit „Schschsch…“ beruhigen kann.

Deshalb mussten wir als hörende Eltern nicht wirklich lange überlegen, als uns unser betreuender HNO-Arzt mit dem Satz „Es gibt für fast alles eine Lösung“ über die Möglichkeiten eines Cochlea Implantats (CI) aufklärte. Dieses technische Wunderwerk kannten wir bis dato überhaupt nicht. Wir recherchierten viel dazu, lasen Erfahrungsberichte, gingen zu Selbsthilfegruppen, informierten uns bei anderen Eltern in sozialen Netzwerkgruppen, besuchten Austauschtreffen des Gehörlosenverbandes… und erfuhren so auch mit etwas Befremden die Vorbehalte gegenüber CIs. Ich las Erfahrungsberichte mit der Überschrift „Es muss nicht immer das CI sein“ und dachte erst, dass es da vielleicht noch eine andere Lösung gab, über die ich bislang nicht informiert worden war. Dass es dabei um eine kulturelle Diskussion ging, war mir damals nicht bewusst. Ich war einfach nur froh, dass es für mein Mädchen eine Möglichkeit gab, ihr die Welt der Hörenden doch noch zu ermöglichen. Ich habe es nie so gesehen, dass da etwas „von Gott gewolltes repariert“ werden sollte, weil sonst meine Tochter nicht „perfekt“ sei. Ich liebe sie so wie sie ist! Doch natürlich will ich meiner wunderbaren Tochter die Welt zeigen – und wie schön kann es sein, ihr eben auch die Welt der Töne und Klänge eröffnen zu können.

Die Hörreise beginnt

Als Marie im Alter von zehn und 13 Monaten implantiert wurde, sich kurz darauf ganz deutlich die ersten Höreindrucke bemerkbar machten und ihre Sprachentwicklung einsetzte, war ich einfach nur glücklich, miterleben zu dürfen, wie meine Tochter aufblühte. Sie hatte sichtbar Spaß daran, ihre Stimme zu entdecken – war sie doch nicht wie andere Babys in die Lallphase gekommen und fast ganz verstummt. Ich habe sie in der Zeit nach der Aktivierung viel gefilmt und schaue mir die Videos oft an. Es ist so schön, wie sie gluckst und ihre Stimme ausprobiert und nach und nach in die Sprache kommt. Denn das war eine Entwicklung, die bei ihrem älteren (hörenden) Bruder ganz selbstverständlich war, und deren Fehlen mir schmerzlich bewusst war.

Tatsächlich verlief Maries „Hörreise“ wie im Lehrbuch eines früh implantierten Kindes. Wahrscheinlich hatten wir einfach Glück, dass Marie ihre CIs sehr schnell akzeptiert hat. Wahrscheinlich hat sie aber auch rasch erkannt, dass sie einen Mehrwert davon hat. Sie fing mit Lallen, Singen und viel Quietschen in allen Tonlagen an.  Bald folgten auf „dadada“ gezielte „Mama“ und „Papa“-Ansprachen. Auch ihren Namen lernte sie schnell. Ihre gleichaltrige, hörende Cousine tat uns sogar den Gefallen, als Late-Talkerin sehr spät mit dem Reden anzufangen, sodass beide Kinder bald ungefähr gleichauf waren. Von alleine ging das freilich nicht. Es gehört die Unterstützung der ganzen Familie dazu!

Wir fuhren alle paar Wochen zur Anpassung in’s CI-Zentrum, bekamen von Anfang an Frühförderung und stundenweise Logopädie, wobei wir letztere bald wieder beendeten, weil sie schlicht nicht nötig war.

Die Prophezeiung unseres implantierenden Arztes bewahrheitete sich, dass Maries zwei Jahre älterer Bruder der beste Lehrmeister sein würde. Er war in allem ihr großes Vorbild, ihm machte und brabbelte sie alles nach.

Das Kind als Ganzes betrachten

Dabei machten wir um das Thema „Hören und Sprechen“ nie allzu großes Aufheben. Ich betrachte mein Kind als ganzen Menschen und nicht nur auf ihre Ohren oder Implantate beschränkt. So ging Marie früh zum Kinderturnen, lernte Laufrad und später Fahrradfahren, Skifahren und lernte durch ihre sehr gute Beobachtungsgabe früh Brust- und Kraulschwimmen im Schwimmverein. Sie springt bei uns im Garten Trampolin, tanzt Ballett, reitet und lernt jetzt, im Alter von sechs Jahren, Flöte.

Natürlich gab und gibt es Unterschiede. Die gibt es ja bei jedem Kind und Menschen. Aber eben auch Unterschiede, die auf das eingeschränkte Hörvermögen zurückzuführen sind. Hören mit CI ist viel Arbeit und nie so wie mit einem gesunden Ohr. So waren für Marie reine Bilderbücher viel länger wichtiger als nur ab und an illustrierte Vorlese-Bücher. Hörspiele hört sie fast kaum, außer ein paar Geschichten, die ihr durch Bücher vertraut sind. Fernsehen tut sie hingegen wiederum sehr gern – da unterstützen die visuellen Bilder die akustischen Lücken (da musste ich als Mama meine pädagogischen Ideale anpassen). Aber irgendwie haben wir es geschafft, dass Marie ihre Hörschädigung (dieses Wort kennt sie gar nicht) oder die Tatsache, dass sie CIs trägt, bislang nie als Nachteil angesehen hat. Im Gegenteil: Sie findet es super, abschalten zu können, wenn ihr etwas zu laut wird oder sie etwas nicht hören will. Das wird in der Pubertät sicher noch lustig werden. Es sei ihr gegönnt! Wir sind viel in der Natur unterwegs, reisen mit dem Camper. Wie viele Nächte haben wir schlaflos bei Dauerregen und Gewitter verbracht, während Marie seelenruhig neben uns geschlafen hat.

Seit diesem Herbst besucht Marie die erste Klasse einer Regelschule. Wir haben uns davor sehr intensiv damit auseinandergesetzt, welche Schulart – die Förderschule wäre nicht so weit – für Marie die richtige ist. Doch eigentlich schlug das Herz seit der Entscheidung für den Regel-Kindergarten schon für die Schule hier am Ort. Marie hat hier bei uns am Ort viele Freunde gefunden, ist super integriert, macht ohne Einschränkungen alle Freizeitaktivitäten wie ihre gleichaltrigen Freundinnen. Die Betreuer vom MSH (Mobile Sozialpädogogische Hilfe), die uns während der Krippen- und Kindergartenzeit betreuten, plädierten anfangs noch für die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) und Förderschule. Aber da hatte ich immer irgendwie das Gefühl, dass sie durch ihre (wertvolle) Arbeit zu sehr auf das Thema Hören fokussiert waren. Ich habe mein Kind immer als Ganzes betrachtet, und die „Fachleute“ hatten eben immer das Handicap im Fokus. Aber mein Kind braucht einfach gleichgesinnte Kinder um sich herum. Sie ist „normal“ entwickelt, selbstbewusst, steht mit beiden Beinen und Ohren im Leben. Für sie wäre es überhaupt nicht verständlich gewesen, warum sie nicht mit ihren Freundinnen auf die gleiche Schule wie ihr Bruder kann. So hat sie auch zu den – inzwischen weniger gewordenen – Austauschtreffs mit anderen gehörlosen oder CI-implantierten Kindern keine große Lust. „Nur weil die auch CIs haben, heißt das doch nicht, dass ich mit denen spielen muss“, sagt sie. Kindermund tut Wahrheit kund, und wo sie Recht hat, hat sie Recht.

Natürlich kann (und will) ich nicht in die Zukunft schauen. Es werden sicherlich noch die ein oder anderen Herausforderungen und schwierige Entscheidungen auf uns zukommen. Aber im Hier und Jetzt kann ich sagen, dass sich alles gut anfühlt. Ich habe zwei gesunde, glückliche Kinder, die mit allen Sinnen die Welt begreifen und erobern. Ich habe meiner Tochter eine Tür in eine Welt geöffnet, die ihr ohne CIs verwehrt gewesen wäre. Jeden Tag auf’s Neue sehe ich meine Tochter an, wie sie glücklich ganz selbstverständlich in der Früh ihre CIs anlegt und in den Tag startet – bereit, die Welt zu erobern.

Um anderen Eltern, die vor der Entscheidung einer CI-Implantation stehen, Mut zu machen, teilen wir unsere Erfahrungen auf www.marie-kann-hoeren.de.

Michaela Holzer
Oktober 2022