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Kleine Erfinderin ganz groß!

Von Steffen Trippel

Unsere 11jährige Tochter Linn hörte schleichend immer weniger auf dem linken Ohr und wurde nach Feststellung der vollständigen Ertaubung schließlich im November 2022 im Alter von 8 Jahren einseitig implantiert. Ihre Hörreise begann mit zwei Jahren durch die klassischen U-Untersuchungen beim Kinderarzt. Die dazugehörigen ersten beiden Hörtests fielen jeweils schlecht aus. Allerdings führte der Kinderarzt die Ergebnisse bei der ersten Untersuchung auf fehlende Konzentration und bei der Zweiten auf einen grippalen Infekt, den sie in der Vorwoche hatte, zurück. Wir Eltern wurden jedoch hellhörig und wünschten eine weitergehende Überprüfung durch einen Facharzt. Auch dieser sah keine Anzeichen auf eine Hörschädigung, führte jedoch auf intensiven Wunsch unsererseits weitere Hörtest durch, die eine Hörschädigung belegten. Zur weiteren Behandlung stellten wir Linn in der Uniklinik Mainz vor, durch die sie bis heute betreut wird. Von dort aus erhielt sie in Zusammenarbeit mit unserer Akustikerin mit vier Jahren ihr erstes Hörgerät. Die Ursache der Hörschädigung wurde zunächst nicht weiter untersucht. Es hieß, dass weitere Untersuchungen folgen würden, wenn das Ohr ausgewachsen sei, oft seien Hammer, Amboss oder Steigbügel der Grund, was man im Rahmen einer OP gut behandeln könne.

Warum ist uns die einseitige Schwerhörigkeit unserer Tochter nicht selbst aufgefallen?

Linn hatte sehr früh eine überdurchschnittliche Sprachentwicklung. Zudem hört sie – auch heute noch – auf ihrem rechten Ohr wie ein Luchs. Im Nachhinein erkennen wir jedoch einige Anzeichen, die darauf hätten hindeuten können. Beispielsweise hatte sie manchmal Probleme beim „Stille-Post-Spiel“ oder sie verstand Oma & Opa am Telefon nicht gut. Dadurch, dass das jedoch nur ab und zu passierte – jeweils abhängig davon, welches Ohr im Einsatz war – waren die Zeichen einfach zu schwach.

Linns Gehör wurde nach der Hörgeräteversorgung jährlich untersucht. In der ersten Zeit blieben die Testergebnisse stabil. Im Sommer 2020 stellte die Akustikerin jedoch weiteren Hörverlust fest, ein Jahr später steigerte dieser sich noch einmal deutlich. In Abstimmung mit der Uniklinik Mainz verbrachte Linn im Oktober 2021 drei Tage in der Klinik zur weiteren Diagnostik (MRT, CT, genetische Analyse). Es zeichnete sich ab, dass der einseitige Hörverlust voranschritt und ggf. schwerwiegende Erkrankungen die Ursache sein könnten.

Trotz aller Untersuchungen konnten leider keine eindeutigen Ursachen für Linns Hörverlust festgestellt werden.  Sie wurde also mit einem neuen Hörgerät versorgt und wir über die Möglichkeit eines Cochlea Implantats in Kenntnis gesetzt. Die Information darüber, dass das Gehör komplett verschwinden wird, war für uns ein Schock, weil wir uns damit nie auseinandergesetzt hatten. Hoffnung und Zuversicht, dass alles gut werden würde, waren unser ständiger Begleiter und gaben uns großes Vertrauen. Zudem hatten wir bis dahin auch keinerlei Berührungspunkte mit einem CI.

Nach einem Jahr war der Zugewinn selbst über das neue Hörgerät kaum noch messbar, Linn war auf diesem Ohr nun ertaubt. Wir wurden seitens der Uniklinik Mainz vollumfänglich über die Option einer Cochlea Implantat-OP aufgeklärt und bei der für uns zuständige Pädagogisch-audiologische Beratungsstelle gemeldet. Unsere dortige Ansprechpartnerin hat sich sehr zeitnah mit uns und Linns Schule in Verbindung gesetzt und wir sind sehr froh und dankbar auch heute noch so toll von ihr unterstützt zu werden. Sie stand uns während des Schulwechsels und in den darauf folgenden Monaten sehr eng zur Seite und schulte auch Linns Lehrer:innen. Das Engagement, das hier an den Tag gelegt wird, kann man gar nicht genug würdigen. Als Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, muss man an so vielen Stellen kämpfen, damit sie die Hilfen erhalten, die Ihnen zustehen. Da gibt es nichts Schöneres, als von Menschen umgeben zu sein, die einen hierbei unterstützen.

Nachdem wir das erste mal so richtig mit der Ertaubung unserer Tochter konfrontiert waren, recherchierten wir viel im Internet. Wir stießen auf YouTube-Videos, die per Ton das Hörerlebnis mit CI deutlich machten. Im ersten Moment war es grausam, den blechernen, roboterähnlichen Stimmen zuzuhören. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, zu welch großartigen Leistungen unser Gehirn mit gezieltem Hörtraining in der Lage ist. Gleichzeitig fanden wir im Netz aber auch sehr viele berührende Geschichten von CI-Trägern im Babyalter bis zu Rentnern, die uns Mut machten.

Nach einem weiteren Gespräch mit unserer Ärztin in der Uniklinik Mainz, in der sie uns auch zahlreiche sehr positive Hörverläufe von Kindern nach der Implantation aufzeigte, fiel sehr schnell der Entschluss für die OP. Auch Linns Begeisterung gab uns viel Kraft und Zuversicht. Es war einfach toll zu sehen, wie sie sich mit dem Thema auseinandersetzte und sich so sehr freute, dass sie auf ihrem tauben Ohr vielleicht bald wieder hören könnte. Im Vorfeld wurden wir seitens der Klinik bzgl. der verschiedenen CI-Hersteller neutral & objektiv beraten. Linn war von Anfang an sehr interessiert an der Thematik und beschäftigte sich ausgiebig (im Alter von 9 Jahren!) mit den Informationsbroschüren. Da wir allen Herstellern gegenüber aufgeschlossen waren und Linn sich relativ schnell festgelegt hatte, wollten wir ihren Wunsch unterstützen und entschieden und für den österreichischen Hersteller Med-El.

Die OP im November 2021 verlief gut. Linn hatte an den ersten beiden Tagen stärkere Schmerzen, auch durch eine verkrampfte Kopfhaltung, die sich aber innerhalb der ersten Woche legten. Nach sechs Wochen Wundheilung stand im Januar 2022 der Erstanapssungsaufenthalt in der Uniklink an, bei dem unsere Tochter erstmals Prozessor und Spule aufs Ohr bzw. den Kopf bekam. Leider hatte sich Linn bei ihrem OP-Aufenthalt mit dem resistenten MRSA-Krankenhauskeim infiziert, weshalb wir komplett isoliert und unter strengsten Auflagen die Erstanpassung vornehmen mussten. Der Keim ist für gesunde Menschen ungefährlich, kann aber für geschwächte Personen durchaus gefährlich werden, weshalb das Krankenhaus hier sehr viel Wert auf die Einhaltung der Isolation und Hygieneregeln legte. Diese unschönen Nebeneffekte gehören leider auch zur Wahrheit dazu, blieben aber in Linns Fall folgenlos. Durch spezielle, keimabtötende Waschgels, Lotionen, Nasengels, die alle Familienmitgliedern nutzten, sowie bestimmten Hygiene- und Reinigungsmaßnahmen sind wir den Keim in der Folge auch wieder losgeworden.

Wir haben die Entscheidung für das CI nie bereut und Linn trägt es mit Stolz. Sie hat keinerlei Ambitionen, es zu verstecken. Im Gegenteil: Für die Abdeckung der Spule werden bunte „Skins“, passend zur jeweiligen Kleidung, ausgewählt.

Ihre Hörergebnisse mit dem CI verbessern sich stetig, wobei sie die Herausforderung hat, dass ihr guthörendes Ohr sehr viel Arbeit im Alltag übernimmt und somit der Nerv bzw. das Gehirn auf der ertaubten Seite extra stimuliert werden muss. Hierfür macht sie Hörübungen per Bluetooth-Stream direkt auf das CI. Diese sind ziemlich anstrengend und verlangen ihr viel Energie ab. Dafür klingen Mama & Papa jetzt nicht mehr wie Mickey Mouse & Darth Vader, sondern wie Mama & Papa. Selbst Hörspiele und Musik werden von ihr mittlerweile teilweise schon wie das Original wahrgenommen. Trotzdem sollte man auch betonen, dass die Hörtrainingseinheiten viel Kraft kosten. Obwohl wir die Übungseinheiten kurz halten (5-10 Minuten) und Linn sehr ehrgeizig ist, ist es so, dass sie sie nur machen möchte, wenn sie insgesamt genug Energie hat. Sie betont regelmäßig, dass ihr das viel Konzentration abverlangt. An Schultagen, die ihr sowieso viel Kraft rauben, gibt es daher leider so gut wie keine Hörübungen.

Nach der Erstanpassung mussten wir leider viele Monate auf einen Platz für die anschließende Rehamaßnahme warten. Diese konnten wir endlich im Herbst 2023 starten. Unterdessen stand im Sommer 2023 ein Schulwechsel von der Grundschule auf das Gymnasium an. Die Grundschule unserer Tochter war relativ klein und ihre Klasse mit einer Klassenstärke von nur 16 Schülern echter Luxus. Dazu wurden wir durch ihre Lehrerin, die gleichzeitig auch die Schulleiterin war, in allen Bereichen herausragend unterstützt. Linn bekam einen Sitzplatz in der ungeliebten vorderen Reihe, der Klassenraum wurde akustisch saniert und ein Lehrermikrofon, das mit dem CI gekoppelt wurde, angeschafft. Zudem wurden Linn als Nachteilsausgleich sogenannte Hörpausen eingeräumt, so dass sie bei Bedarf in den Pausen im ruhigen Klassenraum bleiben durfte.

Vor dem Wechsel auf das Gymnasium haben wir frühzeitig mit der von Linn favorisierten Schule das Gespräch gesucht, um für Transparenz zu sorgen. Linns neue Klassenlehrerin hat sich noch vor der Einschulung mit der Thematik auseinandergesetzt und die Maßnahmen der Grundschule übernommen. Darüber hinaus hatte sie auch eigene Vorschläge, wie beispielsweise die Anschaffung eines Drehstuhls, mit dem Linn sich auch der Klasse zuwenden kann. Der Übergang war eine echte Herausforderung, da die neue Klasse aus 30 Schülern besteht. In den ersten Monaten flossen fast jeden Abend Tränen, da die Lautstärke in der neuen Klasse so viel höher war und Linn zum Teil die Lehrer und Mitschüler trotz höchster Konzentration nicht gut verstehen konnte. Der Schulalltag verlangte Linn in den ersten Wochen/Monaten alles ab. Sie hatte nach der Schule keine Kapazitäten für soziale Kontakte oder Hobbies, sie machte ihre Hausaufgaben und malte den ganzen Nachmittag, sie brauchte die Ruhe. Die neue Schule hat aber auch hier vorbildlich mitgearbeitet: Es wurden beispielsweise mit Hilfe der Beratungsstelle zusätzlich eine FM-Übertragungsanlage mit Schülermikrofonen angeschafft, damit Linn die Wortmeldungen der Mitschüler besser verstehen kann. Der Klassenraum wurde gewechselt und ebenfalls akustisch saniert, um optimale Bedingungen für unsere Tochter zu ermöglichen. Zudem ziehen auch die Fachlehrer ohne Ausnahme mit. Wir haben großes Glück, so viel Unterstützung zu erhalten, dafür sind wir sehr dankbar, denn wir wissen, dass das nicht selbstverständlich ist.

Auf Linns Verhältnis zu ihren Freundinnen, Freunden und Mitschülern hatte das CI bislang keinerlei spürbaren negativen Einfluss. Natürlich hoffen wir, dass das auch in der anstehenden Pubertätsphase so bleiben wird.

Nach der OP stand natürlich auch der regelmäßige Reha-Aufenthalt an. Leider kämpfen wir hier bis heute mit der Kostenübernahme durch die Private Krankenkasse oder der Rentenversicherung. Bislang sind wir hier mittlerweile mit einem vierstelligen Betrag in Vorlage getreten, ohne eine Erstattung erhalten zu haben. Wir hoffen sehr, dass sich hier bald eine Lösung abzeichnet. Kern des Problems ist die Private Krankenkasse, die zwar die Kosten für die OP übernommen hat, die Rehabilitation aber nicht als Teil ihrer Gesamtleistung ansieht. Daher hat sie uns an die Rentenversicherung verwiesen. Hier mahlen die Mühlen äußerst langsam. Außer neuen Formularanforderungen und Arztberichten haben wir bislang noch keine weitere Information zu unserem Antrag der Kostenübernahme erhalten. Da wir bis zur Kostenübernahmeklärung mit dem Reha-Beginn nicht länger warten konnten (Linns Situation hatte sich durch den Schulwechsel wie oben beschrieben stark verschlechtert, was auch psychische Auswirkungen mit sich brachte), sind wir privat in Vorlage getreten. Wir waren hierzu mit zwei Einrichtungen im Austausch, wobei die wohnortnähere Einrichtung uns aufgrund des Fachkräftemangels nur auf eine Warteliste für kurzfristige Absagen setzen konnte. Daher fiel unsere Wahl auf das CIC Wilhelm Hirte in Hannover, die Linn seither liebevoll und professionell begleitet haben. Neben der Reha selbst empfinden wir den Austausch mit anderen Eltern vor Ort als Bereicherung.

Unsere Tochter hat mit ihrer unbändigen Neugier, Energie und Ehrgeiz die gesamte Situation toll angenommen. Direkt nach der Entscheidung für die Implantation hat sie begonnen Gebärden zu lernen, sich mit der Technik des CIs und der Anatomie des Ohrs beschäftigt. In dem Zusammenhang sind wir auf den „Ideas4Ears“-Wettbewerb von Med-El aufmerksam geworden. Med-El animiert jährlich Kinder aus der ganzen Welt dazu, Ideen zur Verbesserung der Situation von CI-Trägern einzureichen. Auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen hat Linn verschiedene kleine Ideen entwickelt, die ihr persönliches CI-Erlebnis deutlich verbessern würden.

  • Beispielsweise würde ihr eine aktuelle Batteriestandanzeige des CIs auf dem Smartphone helfen, um den anstehenden Batteriewechsel besser planen zu können.
  • Eine weitere Verbesserung wäre die Verbindung des CIs mit dem Brillenbügel ihrer (Sonnen)Brille. Hier hat sie sich ein magnetisches Verbindungsstück bzw. eine direkte Schlauchverbindung des CI mit dem verkürzten Bügel der Brille ausgedacht. Brille und CI-Prozessor – das ist viel „Gewurschtel“ hinter einem Ohr…
  • Ebenso wünscht sie sich eine Verlängerung der Akkulaufzeit über eine Solarabdeckung auf der Spule des CIs.
  • Toll wäre auch ein Over-Ear-Kopfhörer mit einer Polsteraussparung im Bereich des Prozessors hinter dem Ohr, damit es nicht „drückt“.

Ihre Ideen hat sie grob mit Bleistift skizziert und sie sind dann erstmal in Vergessenheit geraten. Einen Tag vor Abgabeschluss haben wir das Skizzenblatt in ihrem Zimmer gefunden und in Absprache mit ihr bei Ideas4Ears eingereicht. Wenige Wochen später bekamen wir den Anruf, dass Linn für ihre Ideen zur Deutschland-Gewinnerin gewählt wurde. Der Hauptpreis ist eine dreitägige Reise in die Zentrale von Med-El in Innsbruck. Obwohl sich das von Med-El geplante Rahmenprogramm wirklich herausragend liest, freut sich Linn am allermeisten auf die anderen Gewinnerkinder aus über 13 verschiedenen Ländern der ganzen Welt. Schon jetzt ist der anstehende Besuch ihr Highlight des Jahres.

Wir sind unfassbar stolz auf unsere Tochter. Sie hat in den letzten Jahren die gesamte Familie mit ihrem großen Herzen und ihrer Neugier auf ihren schmalen Schultern getragen. Die schlimmste Zeit (der Schulwechsel) ist erstmal überstanden. Der Mensch ist eben doch auch ein Gewohnheitstier. Natürlich gibt es immer mal wieder kleine Tiefs, die sie aber, so wie früher, wieder positiv und lösungsorientiert angeht. Als Eltern wünschten wir uns, dass sie nicht so hohe Ansprüche an sich selbst hätte und etwas Druck rausnehmen könnte, das würde es ihr sicherlich leichter machen. Wir versuchen sie zu begleiten und weiterhin stark zu machen für die Herausforderungen, die das Leben für sie bereit gestellt hat und auch in Zukunft auf sie warten. Ihr großer Traum ist es übrigens, die erste „beeinträchtigte“ Astronautin der Welt zu werden. Alternativ wäre Ärztin auch ganz Ok ;-)

Steffen Trippel
Juni 2024