Wie ich durch Gleichgesinnte wieder zu mir selbst fand
Von Julia Dittmann
Hallo ihr lieben Leser/innen, ich möchte mich einmal kurz vorstellen. Mein Name ist Julia Dittmann, ich bin 23 Jahre alt und komme gebürtig aus Nordhorn. Seit Oktober 2015 studiere ich an der Universität Bremen und bin seit Oktober 2018 im ersten Semester meines Masterstudiums. Ich bin beidseitig gehörlos geboren und wurde 1998 mit drei Jahren auf der rechten Seite implantiert (Entscheidung meiner Eltern) und mit 10 Jahren auf der linken Seite (Entscheidung meinerseits).
Ich habe wirklich sehr lange überlegt, diesen Blogeintrag zu verfassen, da es ein Thema anspricht, bei dem es mir auch noch heute, nach fast 7 Jahren immer noch schwerfällt, darüber zu sprechen. Ein Thema, bei dem meine Hände zittrig werden und bei dem ich mich eigentlich sehr unwohl fühle. Es geht um meine Mobbingerfahrungen, die mich fünf Jahre jeden einzelnen Tag auf meiner weiterführenden Schule in meiner Heimat (Klasse 5 bis 9) begleiteten.
Da es mir jedoch immer sehr geholfen hat, meine Erfahrungen beim Schreiben „loszuwerden“ und weil es bestimmt da draußen in der Welt jemanden gibt, der gerade ähnliche Erfahrungen durchmacht oder bis zum Ende durchlebt hat, habe ich mich dazu entschieden, euch einen Einblick in einen Lebensabschnitt zu geben, der mir nicht nur sehr weh getan hat und mein Selbstbewusstsein in viele Splitter zerbrochen hat, sondern gleichzeitig zu dem Menschen geformt hat, der ich heute bin.
Vorab möchte ich erwähnen, dass natürlich nur einige Erfahrungen wiedergegeben werden, um den Rahmen dieses Blogeintrages nicht zu überschreiten. Gleichzeitig ist es für mich von großer Bedeutung zu betonen, wie wichtig der Kontakt zu Gleichbetroffenen für jeden Einzelnen sein kann und wie dieser mir persönlich sehr positiv bei meiner Persönlichkeitsentwicklung und dem (Wieder-)Aufbau meines Selbstbewusstseins geholfen hat. Außerdem soll dieser Blogeintrag Eltern nicht davon abhalten, ihr Kind auf eine Regelschule zu schicken. Es gibt – wie bei jeder anderen Sache auch – immer Ausnahmen!
Selbstverständlich gibt es Schulen, an denen es nicht so ablaufen muss, wie bei mir und wo Rücksicht auf alle Bedürfnisse genommen wird und es keine Probleme zwischen Mitschülern und Lehrkräften gibt.
Bevor ich beginne, muss ich erst einmal sehr weit ausschweifen und zurückgehen bis ins Jahr 2006 (bis 2011). In dieser Zeit besuchte ich das Regelgymnasium in meiner Heimat Nordhorn (Niedersachsen). Vorab: In der Grundschulzeit besuchte ich ebenfalls eine Regelschule und hatte viele Freundschaften geschlossen. Obwohl sich an meiner Grundschule keine weiteren Kinder mit Hörbeeinträchtigungen befanden, passte sich die Schule an meine (Hör-) Bedürfnisse an. Ich freute mich sehr, direkt nach den Sommerferien mit vielen Freunden das Gymnasium zu besuchen.
Bereits vor der Einschulung in die 5. Klasse hatten wir (meine Eltern und ich) ein Treffen mit der Direktorin meines damaligen Gymnasiums, um sie über meine Situation aufzuklären. Es wurden verschiedene Themen angesprochen, z.B. meine Cochlea Implantate, der Einsatz des Mikrofons im Unterricht; und dass für eine gute Kommunikation möglichst eine Klasse gewählt werden sollte, die weniger Schüler/innen umfasst, sowie die Wichtigkeit einer geeigneten Sitzordnung, Nachteilsausgleiche bei den Prüfungen, usw.). Wir baten die Rektorin all diese sehr wichtigen Informationen an den jeweiligen Klassenlehrer weiterzugeben. Die Direktorin der Schule versprach uns, auf unsere Bitten/Wünsche einzugehen. Insgesamt verlief das Gespräch wirklich sehr gut und wir gingen mit einem guten Gefühl nach Hause. Nach den Sommerferien und am ersten Schultag merkte ich jedoch sehr schnell, dass keine Vorkehrungen seitens der Schulleitung in personeller, baulicher und technischer Hinsicht getroffen wurden, die eine Kommunikation begünstigt hätten. Nicht nur die Klassenlehrerin, sondern auch alle anderen Lehrer, die ich hatte, wussten nichts von meiner Situation. Außerdem hat mich eine der größten Klassen erwischt. Wir waren ca. 35 Schüler in einer Klasse und die Sitzordnung war total daneben: Hintereinander gereihte Tische, sodass man sich immer umdrehen musste, wenn jemand gesprochen hat und ich die Mundbilder der eigenen Sitzreihe gar nicht ausfindig machen konnte. Dabei ging vieles, was gesagt worden ist, im Lärm einfach unter, und bevor ich den „Sprecher“ endlich gefunden hatte, hatte er bereits zu Ende gesprochen.
Nach einer Weile wurde mir neben der normalen Mikrofonanlage, welche die Lehrer benutzten, auch ein kleineres für die Schüler von der Krankenkasse genehmigt. Für eine Weile wurde wenigstens das kleine Mikrofon solange weitergegeben, bis es den Sprecher erreichte. Auch die Sitzordnung wurde zu einem riesigen, eckigen „U“ verändert. Endlich konnte ich fast jedes Mundbild sehen und ablesen. In Bezug auf die Lautstärke wurde jedoch trotzdem keine Rücksicht genommen.
Diesbezüglich erinnere ich mich an folgende Situation: Meine Mutter wollte mich von der Schule abholen und wartete draußen auf dem Flur auf mich. Später fragte sie mich, ob der Lehrer gar nicht im Klassenraum gewesen war, denn sie hatte unsere Klasse bis auf den Flur hinaus hören können. – So laut war es also gewesen, obwohl ein Lehrer Aufsicht geführt hatte! Wie sollte jemand wie ich da irgendetwas verstehen?
Dann von einem Tag auf den anderen fing der Horror an:
Ein Mädchen, das ich nicht nur von der Kindergartenzeit, sondern auch aus der Grundschule kannte, fing auf einmal an, schlimme und falsche Geschichten über mich zu verbreiten. Ich weiß bis heute nicht, warum sie das getan hat. Sie brachte die ganze Klasse dazu, sich gegen mich zu wenden. Alle lästerten über mich, entweder hinter meinem Rücken, oder sogar auch dann, wenn ich in der Nähe war. Sie fingen an, extra so zu reden, wie sie wussten, dass ich sie nicht verstehen konnte und lachten mich aus, wenn ich nachfragte. Einige Lehrkräfte merkten zwar, dass etwas seltsam war, taten aber nichts dagegen.
Im Laufe der fünf Jahre wurden die Klassen mehrmals neu gemischt und aufgeteilt, weil es zu viele große Klassen gab. Somit bekam ich immer wieder neue Mitschüler und dachte mir bei jeder neuen Aufteilung: „Jetzt wird alles gut, diese Person kennt mich nicht ...“. Nur leider war die „Übeltäterin“, wegen der alles begonnen hat, all die Jahre in meiner Klasse geblieben und die Geschichte begann jedes Mal auf’s Neue.
Nach und nach machten mich meine Mitschüler nicht nur in der Schule fertig, sondern auch auf verschiedenen Social-Media Seiten, wie ICQ und SchülerVZ. In der Schule wollte niemand freiwillig neben mir sitzen, reden oder mit mir zusammenarbeiten. Natürlich habe ich versucht, mit der Klassenlehrerin über das zu sprechen, was in der Klasse abgeht. Ein paar Mal hat diese und eine vom mobilen Dienst mit den Schülern gesprochen, nur leider hat sich nie etwas daran geändert! Selbst die Lehrer fingen an, die Frau vom mobilen Dienst „um den Finger zu wickeln“, sodass diese sich sogar auf deren Seite stellte und mir zusätzlich das Gefühl gab, wieder allein zu sein. Ich erinnere mich außerdem noch an einen weiteren Spruch meiner Klassenlehrerin, als wieder der Besuch vom mobilen Dienst da war und diese die Mitschüler erneut über das Cochlea Implantat und deren Nachteile in lärmenden Situationen aufklären sollte: „Na, jetzt stehst du wieder mal im Mittelpunkt, was?!“
Da es in unserem Klassenzimmer leider keinen Teppichboden gab, um den Schall abzufangen, wurde nach langen Diskussionen (angeleitet von meiner Mutter, die im Elternrat saß), eine Schallschutzwand errichtet. Jedoch hielt seine Funktion nicht lange, denn sie wurde zerstört.
Wie?, fragt ihr euch; hier ein Beispiel: Der Lehrer war zu diesem Zeitpunkt am Kopierer und der Schüler warf eine Schere quer durch den Klassenraum – ein Wunder, dass sich niemand verletzt hatte – und diese blieb schließlich in der Wand stecken. Natürlich war ein dicker Riss zu sehen. Anstatt sich zu entschuldigen, sah der Junge mich nur ausdruckslos an und stieß mehrmals mit der Schere teilweise auf dasselbe Loch, sodass der Riss immer größer wurde, sich ausbreitete, und am Ende ein richtig großes, klaffendes Loch in der neuen Wand war!
Die anderen feuerten ihn sogar an oder lachten. Heute bereue ich es, dass ich in diesem Moment nichts dagegen unternommen habe. Aber wahrscheinlich lag es daran, dass ich schon so eingeschüchtert von ihnen war, sodass ich mich nicht mehr traute, irgendetwas zu sagen. Als der Lehrer zurückkam, realisierte er zwar das neue Loch an der Wand, sagte aber weder etwas, noch unternahm er etwas dagegen.
Als wäre dies nicht schon genug, wurden die Kabel der Mikrofone durchgeschnitten. Ich weiß bis heute nicht, wie man auf so eine Idee kommen kann. Natürlich waren meine Eltern und ich bei der Klassenlehrerin und anschließend auch bei der Direktorin, denn das ging eindeutig zu weit! Sowohl die Direktorin, als auch die Lehrerin haben mir allerdings nicht geglaubt und waren derselben Meinung: „Wahrscheinlich hast du das Kabel selbst durchgeschnitten, da du aufgrund deiner Behinderung wieder einmal im Mittelpunkt stehen wolltest!“
Jeder einzelne Tag ging so weiter, und das fünf Jahre lang. Jeden Abend weinte ich mich bei meinen Eltern aus. Ich konnte einfach nicht mehr!
Schon gegen Ende der sechsten Klasse fingen Mama und Papa an, sich nach einer neuen Schule für mich umzusehen. Dabei kamen wir auf eine Schule, die gute Möglichkeiten zur Integration anbot: das Landesbildungszentrum (=LBZH) in Osnabrück. Einen Tag lang habe ich dort einen Schnuppertag gemacht, allerdings wollte ich nicht länger dableiben. Die kleinen Klassen gefielen mir zwar sehr gut, allerdings hat mich zu dieser Zeit das Internat abgeschreckt (denn von Zuhause ausziehen wollte ich zu dem damaligen Zeitpunkt nicht).
Meine Eltern informierten sich weiter und erfuhren weitere Jahre später von dem Rheinisch-Westfälischen-Berufskolleg in Essen (eine Schule für Hörgeschädigte und Gehörlose), wo man außerdem das Abitur machen kann. Dazu gehörte ebenfalls ein Internat, welches sich in der Nähe der Schule befand. In der Schule hospitierte ich gegen Ende der 9. Klasse eine ganze Woche lang, während meine Klassenkameraden auf einer Klassenfahrt in Hamburg waren. Da ich sowieso nicht an der Klassenfahrt teilnehmen wollte, war dies ein geeigneter Zeitpunkt. Die Hospitation gefiel mir sehr gut - es gab sehr kleine Klassen und die Lehrer wussten über die Handicaps Bescheid, sodass man diese nicht immer wieder erinnern musste. Das war eine sehr große Erleichterung! Am Ende der 9. Klasse war es dann soweit!
Ich entschied mich dazu, die Schule zu wechseln. Mit 16 Jahren zog ich von Zuhause aus und wechselte nicht nur die Schule, sondern auch das Bundesland, um an einem neuen Ort anzufangen. Ich kann euch jetzt im Nachhinein sagen, dies war die beste Entscheidung, die ich zum damaligen Zeitpunkt getroffen habe! Endlich habe ich das bekommen, wonach ich mich all die Schuljahre gesehnt habe: (wahre) Freundschaften, von denen mir einige bis heute geblieben sind und Zugehörigkeitsgefühl. Endlich gehörte ich dazu und war Teil einer tollen Klasse. Ich war nun endlich angekommen!
Natürlich waren die ersten Jahre an der neuen Schule und in der neuen Umgebung nicht einfach für mich, vor allem nach dieser schlimmen Zeit. Ich musste lernen, Vertrauen zu Menschen aufzubauen und habe sogar heute – nach 7 Jahren – noch einige Schwierigkeiten, besonders bei Personen, die ich neu kennenlerne. Es dauert etwas, bis ich mit neuen Menschen warm werde, weil ich automatisch erst abschätze, ob diese Person „in Ordnung“ ist. Auch im Alltag kann es zu Trigger-Situationen führen. Für die, die nicht wissen, was Trigger sind: Das sind Reize, die bewusst bzw. unbewusst Aspekte bzw. Erinnerungen aus der traumatischen Zeit hervorrufen können. Triggern kann man leider nicht aus dem Weg gehen, da sie überall und jederzeit passieren können; durch zum Beispiel Begegnungen mit (ehemaligen) Mobbern, oder durch bestimmte Situationen, die denjenigen von damals in einigen Aspekten ähneln. In so einem Moment werde ich automatisch in die Rolle der „Andersartigen“ / „Außenseiterin“ zurückkatapultiert und kann nichts dagegen machen. Meistens sind dies Momente, in denen es normalerweise keinen Grund zur Sorge gibt und ich versuche auch immer, diese negativen Gedanken abzuschalten. Leider funktioniert dies nicht immer, da die Erinnerung und Verletzung aus der früheren Zeit viel zu tief sitzt. Mit der Zeit habe ich gelernt, mit diesen Situationen umzugehen und es passiert zum Glück nicht mehr ständig, aber es ist wirklich ein sehr langer, schwieriger und schrittweiser Prozess!
Abschließend möchte ich sagen, dass nicht nur der Beistand meiner tollen Familie, sondern auch der Kontakt zu anderen Hörgeschädigten unglaublich geholfen hat, wieder zurück zu mir selbst zu finden. Ich habe erkannt, dass ich nicht allein bin mit meinen Erfahrungen und ich bin so vollkommen in Ordnung, wie ich bin – auf meine eigene Art und Weise. Der Kontakt mit Gleichgesinnten kann uns nicht nur das Gefühl von Zusammenhalt und Akzeptanz vermitteln, sondern auch sehr viel zur Stärkung des Selbstvertrauens bzw. der eigenen Identität beitragen. Dies musste ich zwar auf die „harte Art und Weise“ lernen, aber ich kann sagen, dieser steinige Weg hat sich gelohnt! Ich weiß jetzt, dass es sich zu kämpfen lohnt.
Deshalb halte ich an diesem Motto fest:
„Wer kämpft, kann verlieren.
Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
All diese Erfahrungen haben mich schlussendlich dazu geleitet, Inklusive Pädagogik mit der Doppelqualifikation Grundschullehramt zu studieren. Im Laufe des Studiums wurde ich immer wieder von Bekannten oder sogar auch von Professoren gefragt, weshalb ich denn nicht Hörgeschädigtenpädagogik studieren würde, da dies „ja besonders gut zu mir passt“.
Auf der einen Seite haben sie zwar Recht, aber auf der anderen Seite möchte ich allen Kindern da draußen (besonders auch denen, die eine Beeinträchtigung haben) das Gefühl vermitteln, dass jemand für sie da ist, sich für sie interessiert und ihre Bedürfnisse versteht. Jemand, der sensibilisiert ist, eventuelle Anzeichen von Mobbing zu erkennen und eventuell sogar in der Lage sein kann, Mobbing zu verhindern, damit es ihnen nicht so ergeht, wie mir.
Sogar in meiner Bachelorarbeit war die Hörschädigung, die Identitätsentwicklung, der Kontakt zu anderen Gleichbetroffenen und die Bedingungen an die Schule bzw. an die Lehrkräfte, die sich ergeben, sobald sich Kinder mit Hörbeeinträchtigungen in der Klasse befinden, ein großes Thema. Von Experten (es war eine empirische Arbeit), wurde sogar unter anderem mehrfach betont, wie wichtig der Kontakt zu Gleichbetroffenen für den betroffenen Menschen sein kann. Die Arbeit ist ein sehr persönliches Produkt geworden und wurde sogar schlussendlich mit einer schönen 1,0 bewertet, worauf ich sehr stolz bin.
Ich denke, jetzt bin ich auch mal endlich am Schluss angekommen. Danke an diejenigen, die bis zum Ende durchgehalten haben und sich die Zeit genommen haben, „meine Geschichte“ zu lesen.
Ganz liebe Grüße
und bis (bestimmt) zum nächsten Blog.
Eure Julia