Von der AHA-Regel zum Aha-Effekt:
Prozessor-Upgrade in Zeiten von Corona
Von Elke Schwaninger
Abstand, Handhygiene und Alltagsmasken gehören seit Monaten zu unser aller täglichen Routine. Wer's mit den Ohren hat, erlebt den Effekt dieser sog. "AHA-Regel" auf besondere Weise. Was als Barriere gegen Viren gedacht ist, wird für Hörgeschädigte zur Kommunikationsbarriere: Räumliche Distanz zum Gesprächspartner lässt alles leiser klingen, dazu ein Stück Stoff im Gesicht, das Gesagtes verzerrt und Absehen vom Mund unmöglich macht...
Genau in dieser Zeit flatterte mir ein Brief meines CI-Herstellers ins Haus mit dem Angebot, den neuesten Sprachprozessor zu testen. "Modernere Technik, omnidirektionale Mikrofone, Störschall-Filter - das kommt doch gerade jetzt wie gerufen!", dachte ich. Der Prozessor sollte vier Wochen lang probegetragen werden. Bei signifikanter Verbesserung des Sprachverstehens würde die Krankenkasse die Kosten für neue Geräte übernehmen.
Neugierig vereinbarte ich einen Termin zur Anpassung der verheißungsvollen Prozessoren. Mit meinen über 16 Jahren CI-Erfahrung würde das sicher schnell und problemlos vonstattengehen: Einfach das alte Programm auf die beiden neuen Prozessoren überspielen und dann mal ausprobieren, wie sich die heutige Technik aufs Sprachverstehen auswirkt...
Die Audiologin überreichte mir -mundschutztragend- meine Probeprozessoren und fragte, ob ich eine Veränderung wahrnehmen würde: "Fie klimpft eff denn jepft für Diff?" Tja...Wie sollte ich das beurteilen, wenn meine Gesprächspartnerin Mundschutz trug? Hörte ich jetzt undeutlicher aufgrund der MASKE oder lag es an den neuen PROZESSOREN?!...Ich antwortete etwas verunsichert, dass die Lautstärke wohl ganz ok sei, aber der Klang noch irgendwie...ungewohnt. Auch meine eigene Stimme klang anders als sonst. Mundschutz- oder einstellungsbedingt?! Ich begann zu ahnen, dass ein Prozessor-Upgrade in Corona-Zeiten herausfordernder werden könnte. Wirklich beurteilen ließe sich das neue Hören wohl nur in freier Wildbahn!
Ich fuhr nach Hause und schnappte mir den Hund, um in eben dieser freien Wildbahn spazieren zu gehen - in der Hoffnung, dabei Menschen ohne Mundschutz zu begegnen, lebenden Hörtests auf zwei Beinen. Das erste, was mir entgegenkam, hatte jedoch vier Beine und offenkundig keinerlei Interesse daran, mit mir verbal zu kommunizieren: Ein unangeleinter Hund, der ohne Sinn für AHA-Regeln direkt auf uns zuschwänzelte. Unser Hund, ein angeleinter Rüde, freute sich augenscheinlich sehr über diesen Kontakt.
Aus einiger Entfernung sah ich eine Person hinterher spurten und irgendetwas rufen. Aufgrund des Abstands -oder lag es doch an den neuen Prozessoren?!- konnte ich allerdings nichts verstehen. Schließlich war die Hundehalterin herangenaht und wiederholte atemlos und aufgeregt, was sie wohl schon aus größerer Distanz gerufen hatte: "SIE IST LÄUFIG!" Die Körpersprache von Vierbeinern lässt sich zum Glück auch NON-VERBAL verstehen und so hatte ich die flirtenden Vierbeiner bereits rechtzeitig getrennt. Trotzdem hätte ich den Zuruf gern eher verstanden. Ich griff zur Fernbedienung meiner CIs und setzte den Empfindlichkeitsregler (der den Radius definiert, innerhalb dessen wir hören) höher. Mal sehen, vielleicht klappte es damit beim nächsten Gespräch auf Distanz besser?
Zur ungewöhnlichsten Erfahrung, die ich mit den neuen Sprachprozessoren machte, gehörte das Programm mit aktivierter Störschall-Unterdrückung. Seitdem ich CIs trage, bin ich gewohnt, alle Höreindrücke SELBST zu filtern. Natürlich ist das anstrengend, aber die Entscheidung darüber, was ich akustisch fokussieren möchte, liegt bei MIR. Wenn das Urteil darüber, was "Stör-" und was "Nutzschall" ist, jedoch der Technik bzw. einem einprogrammierten Filter überlassen wird, führt das in manchen Alltagssituationen zu kuriosen Erlebnissen.
Umgebungsgeräusche, die mir zuvor als nützliche Orientierung gedient hatten, wurden nun einfach vom Prozessor rausgerechnet: Das Geräusch von fließendem Wasser etwa war nach zwei Sekunden stark gedämpft - ziemlich unpraktisch, wenn es akustisch fast verschwindet und man dadurch vergisst, den Hahn wieder zuzudrehen.
Als ich die Spülmaschine ausräumte, wurden die Geräusche des klappernden Geschirrs derart gedämpft, dass ich nicht merkte, wie lautstark ich die Teller tatsächlich in den Schrank stapelte. "Mama, das tut mir in den Ohren weh!" beschwerte sich unsere -normalhörende- Tochter. Für mich war es in dem Moment mit Störschallfilter zwar angenehmer gewesen. Aber was nützt mir das, wenn dieser Filter mir die Fähigkeit nimmt, die Wirkung von Geräuschen auf meine Mitmenschen richtig einzuschätzen?
Ich fühlte mich wie ein Elefant im akustischen Porzellanladen. Und griff zur CI-Fernbedienung, um aufs Programm OHNE Störschallfilter zu wechseln. Auch in den folgenden Wochen erwies sich das als die für mich beste Lösung in den meisten Alltagssituationen. Nur da, wo wirklich langanhaltend (!) gleichbleibender Umgebungslärm auf mich einwirkte, wechselte ich zum "gefilterten" Programm.
Wichtig zu erkennen war für mich auch, dass in Corona-Zeiten nicht jedes unverstandene Wort auf die neuen Prozessoren zurückzuführen ist. Gerade zu Beginn des Gerätewechsels war das sehr schwer einzuschätzen und hat mich oft verunsichert: Lag es jetzt an Mundschutz und social distancing, dass ich mein Gegenüber nur teilweise verstand? Oder waren es doch die neuen Geräte?...
Zu "normalen" Zeiten hätte ich mich einfach in möglichst vielen unterschiedlichen Umgebungen unter Leute gemischt, unterschiedlichsten Sprecher*innen gelauscht und schnell gemerkt, ob eine Einstellung passt. Doch was ist derzeit schon "normal"? Meiner Familie und Freunden habe ich zu verdanken, ein paar vertraute "Übungsobjekte" ohne Mundschutz gehabt zu haben. Und mit denen klappte die Kommunikation nach kurzem "Einhören" genauso gut wie früher. Nachdem ich diese Gewissheit hatte, konnte ich auch mundschutztragenden und abstandhaltenden Menschen wieder unbefangener und mit offenen Ohren begegnen. Zu Hause übte ich außerdem mit einer Hörtrainings-App und gewann dadurch wieder ein sicheres Gespür dafür, wie gut ich Sprache tatsächlich verstand.
Ein tolles Erlebnis hatte ich schließlich nach zwei Wochen mit "neuen Ohren". Wieder war ich mit unserem Hund unterwegs. Er hing gerade schnüffelnd mit der Nase im Gras, als plötzlich von Weitem eine Stimme aus dem Gebüsch ertönte: "Nicht erschrecken! Wir kommen jetzt raus!" Ich hatte den Ausruf über viele Meter hinweg sofort verstanden und hörte auch am leicht ironischen Unterton, dass die Warnung kein Grund zu echter Sorge war. Aber was war da -buchstäblich- im Busch? Diesmal keine läufige Hündin, sondern ein Konkurrenz witternder Macho-Rüde, der angeleint samt Herrchen aus dem Gestrüpp stieg. Kaum hatte der andere Rüde unseren Hund erblickt, verfiel er in ohrenbetäubendes Kläffen. Daher also die "Warnung"! Ich musste laut lachen und freute mich sehr darüber, den Hinweis diesmal klar und deutlich verstanden zu haben 😉
Der große Aha-Effekt folgte schließlich nach vier Wochen Probezeit beim Abschlusshörtest: Im Vergleich zu meinen alten Geräten zeigte sich eine mehr als signifikante Steigerung des Sprachverstehens im Störschall, die ich so für kaum möglich gehalten hätte. Es ist erstaunlich, wieviel sich mit neuen Prozessoren sogar aus alten (16 bzw. 13 Jahre) Implantaten herauskitzeln lässt! Mein regelmäßiges, selbst verordnetes Hörtraining und das Durchhalten trotz coronabedingt schwierigerer Kommunikation haben sich definitiv gelohnt.
Jetzt warte ich gespannt auf die Rückmeldung meiner Krankenkasse. Angesichts der eindeutigen Ergebnisse des Vorher/Nachher-Hörtests rechne ich damit, dort nicht auf taube Ohren zu stoßen😉
Elke Schwaninger