Gewonnener Kampf um das 2. CI und erste Erfahrungen
Status
Mit knapp 1 Jahr Alter ertaubte ich linksseitig völlig, bedingt durch einen Kriegsunfall, rechtsseitig wurde ich im 12. Lebensjahr progredient schwerhörig, mit zusätzlichem Tinnitus. Zuletzt war ich auf diesem Ohr hörrestig schwerhörig, mit dem Hörgerät war kein Sprachverstehen mehr möglich.
1997 erhielt ich linksseitig ein Cochlea Implant (kurz: CI) Fabr. Clarion, das mir leidliches Sprachverstehen, aber auch Musikhören und sogar Telefonieren (bei langsam sprechenden Gesprächspartnern) ermöglichte. Ich betrachtete das linksseitige CI als Zugewinn, da es mir ein höheres Maß an Kommunikation ermöglichte als vorher mit dem Hörgerät möglich. Aber verglichen mit dem Hören und Verstehen anderer Cochlea-Implant-Träger (kurz: CI-Träger) war der Erfolg tatsächlich mäßig.
Antragsverfahren
Am 21.09.03 beantragte ich beim Niedersächsischen Landesamt für zentrale soziale Aufgaben die Genehmigung für das 2. CI und legte gleichzeitig eine Indikation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) vor. Das Landesamt teilte mir mit, ich solle den Antrag bei meiner Krankenkasse stellen. Nach SGB IX hätte das Landesamt innerhalb von 2 Wochen den Antrag selbst weiterleiten müssen. Diesen Fehler habe ich später gerügt, was als berechtigt anerkannt wurde.
Bei meiner Krankenkasse, der Techniker Krankenkasse (TK), erfolgte der Antrag am 13.10.03. Die TK beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenkassen Niedersachsen (MDKN) mit einem Gutachten. Bei der Einladung zu einer Untersuchung beim MDKN wurde ich schriftlich gebeten, mein Cochlea Implant mitzubringen. Da das CI im Kopf implantiert ist, ist es völlig unmöglich, ohne das CI zu erscheinen; anscheinend war der gutachtenden HNO-Ärztin dieser Sachverhalt nicht bekannt. Nach erfolgter Untersuchung und ohne gründliche Analyse der Ergebnisse teilte mir die gutachtende HNO-Ärztin vorab mit, dass sie meinen Antrag ablehnen werde.
"Begutachtungen"
Der MDKN kam in seiner Stellungnahme vom 18.11.03 zu dem Ergebnis, dass nach Prüfung der vorliegenden Unterlagen und der Untersuchungsergebnisse eine beidseitige CI-Versorgung nicht notwendig ist. Statt dessen wurde die Anpassung eines Hörgerätes mit größerer Verstärkungsleistung empfohlen.
Diesem Ergebnis widersprachen sowohl die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) als auch ich persönlich in einem 2seitigen Schreiben. Während die MHH darauf hinwies, dass die zitierten Veröffentlichungen veraltet sind und eine deutliche Indikation für eine Cochlea Implantation auf der entsprechenden Seite feststellte, wies ich darauf hin, dass bei meinem geringen Hörvermögen und wegen des eingeschränkten Frequenzprofils auch die Verwendung eines Digitalgerätes keinen erhöhten Nutzen bringen wird.
Es erfolgte eine Zweitbegutachtung, die ebenfalls mit einer Ablehnung endete. (Erst später erfuhr ich, dass die "gutachtende" Ärztin keine HNO-Fachärztin ist!) Hier wurde der neue Vorschlag gemacht, "das Hörvermögen durch den zusätzlichen Einsatz einer drahtlosen Übertragungs-/ FM-Anlage noch einmal signifikant zu verbessern". Darüber hinaus "liege kein wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis für die Überlegenheit einer beidohrigen CI-Versorgung gegenüber einer einohrigen CI-Versorgung vor". Mit den Argumenten der MHH setzte sich die "gutachtende" Ärztin mit keinem Wort auseinander. Offenbar konnte sie sich dazu nicht äußern, geschweige denn widerlegen - also ließ sie die Feststellungen der MHH einfach unter den Tisch fallen.
Dieser Zweitbegutachtung widersprach die MHH mit dem Hinweis, dass diese letzte Aussage komplett den neuesten wissenschaftlichen Stand der HNO-Heilkunde negiert.
Vor der Sitzung des Widerspruchsausschusses der TK informierte ich diesen über das Wesen einer Schwerhörigkeit, bei der hoch frequente Töne ab 2.000 Hz nicht mehr gehört werden können. Ein Satz, in dem die hoch frequenten Töne fehlen, wie z.B. "I on-onan-en in in-orma-ion-rä-er e a-e.", kann auch durch höhere Verstärkung nicht verstanden werden (bei bildhafter Darstellung vergrößert).
"I on-onan-en in in-orma-ion-rä-er e a-e."
Der Satz lautet übrigens: "Die Konsonanten sind Informationsträger des Satzes."
In dem darauf folgenden Widerspruchsbescheid lehnte die TK die Versorgung mit einem zweiten CI ebenfalls ab. Auch hier blieben sowohl die Aussagen der MHH wie auch die Darlegungen in meinen Stellungnahmen vollständig unberücksichtigt.
Es erfolgte Klage beim Sozialgericht Hannover, der allerdings kurz darauf zurückgezogen werden musste. Die Widerspruchsstelle der TK hätte gar nicht handeln dürfen, die Bearbeitung eines Widerspruchsbescheides war in meinem Falle ausschließlich der entsprechenden Stelle im Niedersächsischen Landesamt für zentrale soziale Aufgaben vorbehalten.
Es kam daraufhin zu einer "Gutachtlichen Stellungnahme" durch den Ärztlichen Dienst des Landesamtes, in dem behauptet wurde, dass keine aktuellen Erkenntnisse bekannt seien, die "die Wirksamkeit einer Versorgung mit einem Cochlea-Implantaten in Fällen wie dem des Herrn Erdmann belegen. Die Hörbehinderung bestehe schon seit vielen Jahren, sie ist nicht akut jetzt erst aufgetreten. Bei einer derartigen Konstellation seien die Erfolgsaussichten im Erwachsenenalter leider gering und ließen sich auch durch eine beidseitige Versorgung nicht wesentlich steigern." Die völlig entgegengesetzten Feststellungen der MHH wurden auch hier nicht beachtet.
Anmerkung: Ich brachte in Erfahrung, dass die begutachtende Ärztin keine HNO-Ärztin ist. Sie hätte nach meiner Auffassung aus diesem Grunde eine solche "Gutachtliche Stellungnahme" mangels ausreichender Kompetenz überhaupt nicht schreiben dürfen.
Klage und Sieg vor dem Sozialgericht
Dagegen erhob ich erneut Klage vor dem Sozialgericht Hannover. Die ausführliche Begründung der Klage erfolgte durch meinen Rechtsvertreter vom Sozialverband Deutschland (SoVD) in enger Abstimmung mit mir. Zusätzlich wurden mehrere wissenschaftliche Artikel zum Thema "bilaterale CI-Versorgung" nachgereicht. Es konnte erreicht werden, dass das von Professor Stoll (Universität Münster) erarbeitete Gutachten in dem ähnlich gelagerten Fall meines Freundes Hermann Aufderheide, Bielefeld, vom Sozialgericht Hannover bei der Bewertung des Sachverhaltes einbezogen wurde. Zusätzlich habe ich das Untersuchungsergebnis meines Hörgeräteakustikers eingereicht, aus dem hervorging, dass bei einer Hörschädigung wie bei mir vorliegend die Versorgung mit einem Hörsystem nicht mehr möglich ist.
Am 15.11.05 erkannte die Behörde, die sich nunmehr "Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie" nennt, die Notwendigkeit eines 2. CI vor dem Sozialgericht an, ohne dass es zum eigentlichen Prozess kam. Offenkundig war dem Amt klar geworden, dass die Ablehnung wissenschaftlich nicht länger haltbar war.
Operation und Anpassung des Sprachprozessors
Dann ging alles sehr schnell. Am 28.12.05 wurde ich in der MHH operiert und am 02.01.06 nach schneller und problemfreier Wundheilung entlassen. Ich hatte sogar die ausnahmsweise Genehmigung erhalten, Silvester zu Hause zu feiern, da alles so glatt verlief!
Daher wurde bereits am 16.01.06 der Sprachprozessor angepasst. Ich hatte das Fabrikat Advanced Bionics Modell Auria gewählt. Grund für diese Wahl waren hauptsächlich drei Überlegungen. Erstens wollte ich nicht zu zwei verschiedenen Dienstleistern bei Problemen mit dem CI gehen. Zweitens aber halte ich die Lösung mit der Energieversorgung bei Advanced Bionics mit wiederaufladbaren Akkus für besser gelöst als bei den Konkurrenzprodukten, die täglich Hörgerätebatterien verbrauchen und damit Müllberge schaffen. Drittens bin ich auch von der Strategie von Advanced Bionics überzeugt.
Bei der Anpassung war zwar erwartungsgemäß der Klang aller Geräusche sehr hoch, aber von der ersten Minute an konnte ich mit dem neu angepassten Sprachprozessor Sprache gut verstehen. 20 Minuten nach der Anpassung besuchte ich meine Mutter, mit der ich - nur mit dem neuen CI - ein einstündiges Gespräch führte, in dem ich sie einwandfrei verstehen konnte.
Mit einem solchen Erfolg hatte ich nicht gerechnet - erhofft wohl, erwartet nicht!
Die ersten 3 Tage ließ ich das linkseitige CI ausgeschaltet, so dass sich der Klang des neuen CI relativ schnell an den normalen Klang anpasste. Mehrmals wurde der Sprachprozessor neu eingestellt, aber es waren jedes Mal nur geringfügige Änderungen notwendig. Hauptsächlich wurden hohe Frequenzen etwas abgedämpft, um Knistergeräusche weniger unangenehm zu machen.
Im Februar 2006 wurde Hörtraining in der MHH durchgeführt. Wegen des guten Ergebnisses waren lediglich drei Sitzungen erforderlich. Die Teste ergaben, dass das neue CI dem alten linksseitigen CI weit überlegen war. Es war damit sogar ein Verstehen im Störgeräusch möglich. Alle Werte waren sehr erheblich besser als beim alten CI. Aber im Zusammenwirken beider CIs gab es zusätzliche und deutliche Gewinne beim Sprachverstehen!
Auswirkungen
Mit dem 2. CI hat sich meine Lebensqualität sehr erheblich verbessert, ich kann kommunizieren, wie ich es zuletzt wohl vor 30 Jahren konnte. Gesprächen kann ich einfacher und viel entspannter folgen, das hat positive Auswirkungen auf meine Gesundheit: Ich bin längst nicht mehr so verkrampft wie früher, als ich um jedes Wort "kämpfen" musste, sondern viel lockerer und deshalb auch viel mehr zu Scherzen aufgelegt. Mir geht es daher wirklich glänzend.
Konnte ich früher im Fernsehen nur untertitelte Filme verstehen, so heute komme ich ohne größere Probleme auch mit Talk-Shows und sogar gut mit synchronisierten ausländischen Filmen zurecht. Der Ärger über die allzu oft schlechten Untertitel wird für mich geringer!
Inzwischen kann ich ohne Ängste telefonieren - früher war oft eine Assistenz notwendig, und jedes Telefonklingeln bedeutete immer Angst vor Strafarbeit. Hierbei benutze ich eine Verstärkungsanlage mit Teleschlinge und dem Induktions-Ohrhaken, die mir hervorragendes Verstehen ermöglichen. Allerdings sage ich noch immer, dass bitte langsam gesprochen werden möge, dann klappt es bestens, auch mit mir unbekannten Personen.
Überdies kann ich mich in Lärm-Situationen wie in der Eisenbahn, U-Bahn oder im Auto, in lauten Messe-Hallen, beim Einkaufen und auf der Straße unterhalten. Sogar Verkehrsnachrichten im Autoradio kann ich beim Autofahren bei Tempo 120 km/h verstehen.
Wenngleich ich schon vorher mit dem alten CI Musik recht gut hören konnte - jetzt kann ich auch Lieder genießen, bei denen die Begleitmusik den Gesang übertönt. Natürlich ist auch Live-Musik viel besser zu hören, verschiedene, gleichzeitig ertönende Instrumente - wie es z.B. bei Jazz üblich ist - kann ich differenziert erkennen und auseinanderhalten.
Ich fragte meine Ehefrau und Familie, wie sie die Veränderung erlebt. Meine Frau sieht insbesondere folgende Vorteile: sie braucht nicht mehr so oft zu wiederholen, ihr ist jetzt ein Sprechen mit mir in normaler Geschwindigkeit, Lautstärke und Betonung möglich. Auch auf mittlere Entfernung kann sie mich ansprechen, sogar von hinten und beim Autofahren ist Verständigung möglich. Sehr entlastet sieht sie sich durch den Wegfall der früher notwendigen Assistenz beim Telefonieren. Auch für meine Frau und Familie bedeutet das 2. CI eine Entlastung der früher nicht selten verkrampften Kommunikation und damit eine sehr deutliche Verbesserung der Lebensqualität!
Fazit: Das 2.CI ist für mich wirklich ein RIESENGEWINN an Autonomie und damit verbundener Lebensfreude!
Ausblick
Allerdings hätte ich (und meine Familie) diese Verbesserungen schon 2 Jahre früher haben können, wenn nicht Ärzte ohne ausreichende Kompetenz meinen Antrag mit unzutreffenden Argumenten abgelehnt hätten. Gegen diese Ärzte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) und aus dem Ärztlichen Dienst des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie gehe ich nun vor, mit Dienstaufsichtsbeschwerden wegen inkompetenter Gutachten und Schadenersatzforderungen wegen entgangener Lebensqualität. Bisher konnte ich leider kaum Einsicht feststellen, aber wir stehen ja noch am Anfang - und ich bin ziemlich kampfeslustig!
© Rolf Erdmann, Linzer Str. 4, 30519 Hannover, Tel./ Fax: 0511/ 83 86 523, e-Mail:
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