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Kind Nummer 52

Unsere Tochter erkrankte 1988, im Alter von zwei Jahren, an einer Pneumokokken-Meningitis. Obwohl wir als Eltern bereits sehr früh bemerkten, dass unser Kind nicht mehr richtig hört, wurden wir von den diversen Ohrenärzten immer wieder vertröstet, dass sich das noch geben würde. Fast ein Jahr nach der Erkrankung und haufenweise Untersuchungen wurde uns dann in der Uni-Klinik in Köln mitgeteilt – auf dem Krankenhausflur im Beisein von mindestens 20 Personen – dass unser Kind aufgrund der BERA-Ergebnisse als taub angesehen werden muss. Das war für uns alle ein herber Schlag, der erst einmal verkraftet werden musste.
 
Später im Jahr kam mein Vater dann mit einem Artikel aus der BILD-Zeitung zu uns, in welchem von einem Jungen berichtet wurde, der in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ein neuartiges Hörimplantat bekommen hatte und nun wieder hören konnte.
 
Naja, was die BILD-Zeitung so alles schreibt …. Aber wir haben dann doch den Strohhalm ergriffen und einen Termin in Hannover gemacht. Mittlerweile kannten wir einige Kinder, die auch gehörlos waren und ein Elternpaar kannte das CI bereits, war aber nicht davon überzeugt, zumal auch die Ohrenärzte und Akustiker zu der Zeit der Meinung waren, dass man sein Kind nicht zur „Micky-Maus“ machen solle. Heute kann ich sagen: keiner hatte eine Ahnung aber schon eine gefestigte Meinung dazu!
 
Damals mussten wir fast 6 Monate auf einen Termin warten, sind dann nach Hannover gefahren und erhielten dort nach einigen Untersuchungen und einer Polypen-Operation dann den endgültigen Bescheid: Michaela ist gehörlos. Gleichzeitig wurden wir von Prof. Dr. Dr. Lehnhardt damals gefragt, warum wir so lange gewartet hätten. Jetzt wäre die Implantation nur noch auf einer Seite möglich, weil die andere aufgrund der Erkrankung mittlerweile verknöchert sei. Insgesamt sind wir dann noch dreimal nach Hannover gefahren, bis Michaela dann am 01.08.1990 als Kind Nr. 52 in der MHH operiert wurde.
 
Nach der OP kam der Professor dann in unser Zimmer und meinte, er hätte schon gesehen, dass unser Kind hören kann. Mir fiel damals ein regelrechter Felsbrocken vom Herzen!
 
Die Erstanpassung verlief dann total unspektakulär: Michaela verzog keine Miene, als die ersten Töne sie wieder erreichten! Der Ingenieur musste ganz dicht an sie herangehen und gucken, ob irgendwo eine Wimper zuckt, damit er die Gewissheit hatte, dass der Ton sie erreicht hat. Es war sehr schwierig, aber es hat sich trotzdem gelohnt: etwa 4 Wochen nach der Erstanpassung und Eingewöhnung an das CI hatte ich MEIN Kind wieder!! In der Zeit der Taubheit hatte sich das Wesen des Kindes drastisch verändert: sie war hochgradig aggressiv geworden, konnte das Gleichgewicht kaum halten und musste auch das Laufen erst wieder lernen. Ihr kleiner Bruder musste zu der Zeit sehr viel unter ihr leiden und auch wir Eltern waren am Rande des Nervenzusammenbruchs. Aber kaum war sie wieder mit der Außenwelt verbunden, wurde sie wieder unser liebenswertes Mädchen!
 
Damals mussten wir noch jeden Monat für eine Woche nach Hannover zu Anpassungen, Sprach- und Hörtrainings fahren und auch zuhause noch Sprachtherapie mit ihr machen, aber als sie dann in der Vorschule lesen lernte, wurde auch ihre Sprache immer besser. Vorlesen und vorlesen lassen tat noch das Übrige dazu.
 
Wir haben sie in der Sonderschule belassen, schon alleine, weil ihr da besser geholfen werden konnte als in den damaligen integrativen Schulen, die überfordert gewesen wären. Michaela hat die Grundschule in Köln, die Realschule in Dortmund und dann das College in Essen besucht und danach die Mittlere Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Hierbei war der Landschaftsverband Köln eine große Hilfe, weil sie ihr für die gesamte Schulzeit während der Ausbildung immer zwei Gebärdendolmetscher zur Seite gestellt bekam und so die Schule mit gutem Abschluss verlassen konnte.
 
Im Prinzip benötigt sie keine Dolmetscher, fühlt sich aber sicherer damit. Ihre Lautsprache ist sehr gut, allerdings hat sie Probleme mit der Grammatik und es gibt immer noch Begriffe oder Bezeichnungen, die ihr nicht geläufig sind und die sie falsch anwendet. So ist z.B. ein Sanitärinstallateur bei ihr der Sanitäter – aber in der Regel weiß ein Außenstehender immer, was sie meint. Im Berufsleben ist sie von Hörenden umgeben und spricht auch mit ihnen, im Privatleben gibt es meist nur gehörlose oder hörbehinderte Freunde wo dann die Gebärdensprache benutzt wird. Zuhause wird gesprochen, da wir als Eltern die Gebärdensprache nie gelernt haben, zumal es uns von Hannover auch untersagt worden ist.
 
Während der Pubertät gab es eine Phase, wo sie das Gerät ablehnte – damals noch das Taschengerät mit Kabel – und mit Gott und der Welt haderte, dass ausgerechnet sie ertauben musste. Als der Sprachprozessor allerdings einmal für 2 Tage ausfiel, weil beim Sport ein anderes Kind auf das Hörgerät getreten war und sie für die Zeit weder Musik, noch Sprache oder Fernsehen hören konnte, war sie totunglücklich und zog sich in ihr Zimmer zurück. Trotzdem hat es noch einige Zeit gebraucht und auch manch harte Worte, bis sie die Notwendigkeit eingesehen hatte. Mittlerweile ist es für sie selbstverständlich, dass sie sich im Falle eines Falles reimplantieren lassen würde und auch für ihren Mann, der unter einer hochgradigen Schwerhörigkeit leidet, ist das CI eine gute Option, um weiterhin Mitglied der hörenden Gesellschaft zu bleiben.
 
Die ganzen Jahre über gab es keinerlei Probleme mit dem Implantat. Ihre Kopfschwarte ist so dick, dass es schön geschützt in ihrem Kopf liegt. Allerdings könnte dies zu einem Problem werden, wenn irgendwann eine Reimplantation ansteht …. Leider ist dies über kurz oder lang zu erwarten, aber nicht, weil das Implantat ausfällt, sondern weil es von Cochlear eventuell keine kompatiblen Sprachprozessoren für das 22-Elektroden-Implantat geben wird! Bereits jetzt gibt es einige Modelle nur noch für die neuen Implantate mit 25 Elektroden! Wir hoffen aber, dass sich der Zeitpunkt noch in weiter Ferne befindet, weil man nicht wissen kann, ob das neue Implantat auch so zuverlässig arbeitet wie das (mittlerweile) uralte……
 
Ob wir es bereuen, unser Kind mit dem CI versorgt zu haben?? NEIN!! Wir würden jederzeit wieder so handeln, egal was die Gegner des CI‘s dazu sagen. Und auch unsere Tochter ist uns dankbar und hat bei ihren Freunden für das Cochlea Implantat Reklame gemacht und erreicht, dass sich einige davon ebenfalls erfolgreich mit einem CI haben versorgen lassen.
 
April 2016
Gabriela Möbes
 
  • Erstellt am .