Aktionsradius II
Oh, wie froh war ich über mein erstes CI! So viel mehr konnte die Welt des Hörens mir noch bieten, als ich in all den Jahren des Hörverlustes geahnt hatte. Da war die Überzeugung: es wird mir ebenso gehen wie meiner armen Mutter und meinem jüngeren Bruder, der das zweifelhafte Glück hatte, mit 19 Jahren bei einem Autounfall zu sterben, bevor die Ertaubung komplett war.
Bei mir hatten die Ohren noch ein Weilchen länger durchgehalten als bei ihm, es fing ja auch erst mit 20 Jahren an, mir Probleme zu bereiten, und mit 45 war es dann „zappenduster“... Oh, jetzt nicht mehr!
Und doch: beruflich ging das Hören immer noch sehr mühsam, und Richtungshören war gar nicht drin – ist ja logisch mit einem Ohr. Sehr langsam verbesserte sich mit der stetigen Übung des Alltags immer noch einiges: das Telefonieren wurde besser, wenn es auch schweißtreibend blieb, wenn ich mit fremden Leuten reden musste, und nach zwei Jahren hörte ich die Vögel endlich nicht mehr lieblich schnarren! Es wurde tatsächlich Vogelgesang! Das machte mich sehr glücklich. Musik blieb eine Katastrophe – aber ich war ja schon jahrzehntelang entwöhnt, das konnte ich verkraften.
Die Arbeit in der ambulanten Krankenpflege war und blieb weiterhin absorbierend, so dass ich zusehends zwischen Bett und Dienstwagen hin und her pendelte mit einem gelegentlichen Umweg über Küche und Bad. Da blieb mir zu musikalischen Ohrenschmausübungen keine Gelegenheit.
Und doch: Zwei Ohren sind doch immerhin das Doppelte von einem! So viel Mathematik konnte ich auch noch! Und meine Erinnerung an meine Jugend mit zwei Ohren wollte sich mächtig Gehör verschaffen! Getrieben von solch mächtigen Verbündeten meines Lebens machte ich mich dann ans Werk, mit Dr. Adunka aus der Frankfurter Uniklinik zusammen die Zweite Implantation zu beantragen. Er führte den Tinnitus des ertaubten rechten Ohres ins Feld, den er mit der Implantation dieses Ohres mundtot zu machen gedenke... Allen Argumenten medizinischer, privater und beruflicher Art gegenüber war die DAK bzw. der Medizinische Dienst der Krankenkassen taub! Ablehnung.
Da ich zwar taub, niederdeutsch „doof“, bin, aber nicht dumm, schrieb ich tapfer einen Einspruch gegen diesen Bescheid. Sehr schnell erfolgte auch gegen diesen mit genau den gleichen Argumenten wie bei der ersten Ablehnung eine Ablehnung. Puh! Mir ging die Luft aus. Gegen so viel Dummheit kam ich nicht mehr an. Wer ist denn hier „doof“?!
Wegen meiner fortschreitenden körperlichen Überbeanspruchung und Mutlosigkeit ließ ich die Angelegenheit vier Jahre lang auf der langen Bank schlafen. Das war sicher sehr unbequem, aber mir ging es dabei auch nicht besser.
Dann las ich immer wieder Berichte von Leuten, die es doch geschafft hatten! Was hatten die denn anderes als ich zur Verfügung?! Die spärlichen Krieger meiner geschlagenen Mut-Armee sammelten sich wieder um meine Hörschnecke. Als Befehlshaber gesellte sich dann ein Bericht in der „Schnecke“ dazu, den der wunderbare Rechtsanwalt Herr Bernhard Kochs aus München geschrieben hatte, in dem er für einen Mandanten die Zweitimplantation durchgefochten hatte als gesetzliches Recht!
Mit dieser Kampftruppe, denen mein Tinni der überflüssigerweise wie immer den Marsch blies, machte ich mich dann erneut an die Arbeit. Ich war wild entschlossen, es diesmal durchzukämpfen. Auch für die CI-Generationen nach mir...(nicht nur meine jüngste Tochter meldet inzwischen traurigen baldigen Bedarf an, sondern so viele arme Menschen, denen es ein Segen wäre, waren mir inzwischen über den Weg gelaufen).
Leider war Dr. Adunka nicht mehr in Frankfurt, und ich beschloss, zu der netten Frau Dr. Helbig Vertrauen zu fassen. Sie meinte, es müsse glatt gehen, Genehmigung zur binauralen Implantation müsse erteilt werden. Sie bestellte schon mal das Implantat, ein „Sonata“ von MedEl, Termin der OP in vier Wochen festgelegt.
Zwei Tage später eine e-mail von ihr: „Ist doch alles komplizierter! In Ihren Unterlagen fand ich die Ablehnung von 2006 – und da muss der komplette MdK-Rechtsweg doch beschritten werden. Aber das ist nur Formsache.“
Sofort also einen Antrag gestellt, klugerweise diesmal ganz ohne irgendwelche schlauen Argumente..., Es dauerte, dauerte, dauerte... OP-Termin verpasst – verschoben; noch mal verschoben. Ich wurde immer penetranter, begann frech zu drohen, auch mit Einschaltung der Boulevard-Medien. Irgendwann wurde es der Krankenkasse wohl zu viel. Eine der sehr kompetenten und freundlichen MitarbeiterInnen der DAK im Forum des hübsch modernen Versicherungsgebäudes brachte die untergebuddelte Akte dem MdK in Hamburg in meinem Beisein telefonisch wieder in Erinnerung.
Die Sachbearbeiter seien zu Tisch. Sie wolle mich zurückrufen, sobald sie Antwort habe. Ich erwiderte, dass die wohl zwischen 9 h und 16 h ständig „zu Tisch“ seien, und es wäre schon Standard, dass ich eh nicht wieder angerufen würde...
Arme nette Mitarbeiterin – die brauchen bei dem vielen Frust der Klagen alle ein geduldiges, breites Kreuz... Sie versprach es mir noch einmal, dass sie mich am gleichen Nachmittag ganz bestimmt... Sie rief an. Die Sache sei „in Arbeit“, die Genehmigung laufe, es gebe noch in dieser Woche einen positiven Bescheid – herzlichen Glückwunsch... Wow!
Konnte ich jedoch nicht glauben, bis ich - wieder mit Verspätung von zwei Wochen, aber doch – die kostbare „Urkunde“ in meinen Händen hielt.
Dann ging es ganz schnell. Die Operation im Oktober 2009 war diesmal eleganter: ich ließ dabei kaum „Federn“: kleinere Narben, weniger Haare wegrasiert, keine Schmerzen, sogar keine postoperativen Beschwerden wie das letzte Mal... der Anästhesist verstand sein Handwerk: er hatte mir versprochen, mir keine Migräne und 10-stündige Kotzerei einzupflanzen – und er hatte Wort gehalten. Es ging mir also rundum supergut.
Vier Tage, und ich war wieder weg. Leute, die mich noch besuchen wollten, waren frustriert... Drei Tage lang war ich bei meinem Bruder in Hofheim zu Besuch, dann hatte ich schon wieder Hummeln im Hintern und wollte nach Hause – die Erstanpassung hatte ich diesmal im Kölner CI-Zentrum angekurbelt.
Mein Überverantwortlichkeitsbewusstsein war mal wieder an meiner Dummheit schuld: ich wollte meinem Boss ersparen, dass er eine Ersatzkraft für mich einstellen müsse, und der Krankenkasse die hohen Reha-Kosten: Also verzichtete ich auf das generöse und verlockende Angebot einer dreiwöchigen Reha in Friedberg mit Kuraufenthalt in Bad Nauheim. Die Reha in Köln war eine gute Entscheidung gewesen.
Aber mein Chef und meine Kollegin dankten es mir nicht: man verlangte von mir, ich müsse für die Reha-Tage Urlaubstage abrechnen. Vor meinen Augen zerriss mein Boss eine Krankschreibung: Das sei ungültig – er akzeptiere es nicht.
Schon vor der OP hatte er versucht, Druck auszuüben: Dafür nehme ich mir ja wohl den Jahresurlaub. Schließlich könne ja jeder kommen, einfach ins Krankenhaus zu gehen...
Ich war so empört, dass ich vergaß, wütend zu werden. In ganz leisem Ton wünschte ich ihm, er möge einen einzigen Tag seines Lebens taub in diesem Büro sitzen... Daraufhin sagte er nichts derartiges mehr, aber kooperativ wurde er nicht.
Oh, aber ich lernte so schnell, mit dem zweiten CI Freundschaft zu schließen! Wie der Blitz ging das! Eine Oberärztin im Kölner CI-Zentrum hatte anfänglich dreimal wiederholt: „Das wird ein hartes Stück Arbeit für Sie werden, ein hartes Stück Arbeit!“ Wurde es nicht!
Und sofort wollte ich es mal mit Musik probieren... es war wie Weihnachten. Ich lieh mir einen CD-Player (doch was sehr Fremdartiges...) und wollte unbedingt sofort alle beide Audiokabel hineinkriegen... Geduld war angesagt: erst ein Adapterstück kaufen... aber dann!
Nein. War nicht wirklich gut. Aber immerhin: langsame Tonfolgen einer meditativen Musik klangen zumindest nicht unharmonisch, waren eher angenehm... das ist doch schon was.
Mehr ist es bisher nicht geworden. Aber erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt:
Im Grunde wollte ich mit dem zweiten CI ja auch besser arbeitsfähig sein, ist wohl richtig. Aber im Laufe der letzten zwei Jahre hatten meine Augen begonnen, Probleme zu machen. Klar, wusste ich doch schon lange: sog. „genetischer Defekt“ verursachte mir schon mit 39 Jahren leichte Verzerrungen und unangenehme Schatteneffekte im Blickfeld, aber das konnte ich einfach ignorieren. Eine chorioidale Dystrophie. Die Aderhaut des Auges ernährt die Netzhaut nicht mehr gut. Das aber schreitet nun rapide fort. Und meine Sehfähigkeit lässt heftig nach, alles ist verzerrt... lesen geht immer nur mit einem Auge (und es ist doch meine Leidenschaft!), und nach einer halben Stunde geht nichts mehr.
Auch die ständigen Muskelschmerzen einer Myopathie der Oberschenkel melden sich immer lauter, und ich brauche kein CI, um sie zu „hören“... Ein sehr schlauer Kinderarzt fand bei einer lebensgefährlichen Erkrankung meiner Enkelin heraus, was es denn ist: wir leiden unter einer sog. „seltenen“ Erkrankung: Mitochondriopathie.
Alle. Die ganze Familie, und mit jeder Generation verschlimmert sich die Krankheit. Insbesondere Gehirn, Sinnesorgane, Verdauungsapparate, Herz und Muskeln, die alle viel Energie benötigen, gehen zugrunde, da sie nicht durch die Kraftwerke der Zellen, welche die Mitochondrien darstellen, versorgt werden. Daher also.
Ich habe mich darein geschickt: jetzt bin ich Rentnerin, sog. „volle Erwerbsminderung“. Nicht besonders lukrativ, aber ich genieße das bisschen Leben, das mir bleibt. Ansprüche kann man senken, ohne dass es wirklich weh tut. Und wozu brauche ich den Respekt unserer Gesellschaft: Vor Gott bin ich von unendlichem Wert, ohne dass ich etwas leiste und darstelle.
Wer kann sich nicht vorstellen, wie unendlich glücklich ich darüber bin, dass ich wenigstens
HÖREN kann...!
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