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Der Weg zur Sozialen Arbeit mit Cochlea Implantat

Ich kam Ende April 1988 in München zur Welt. Damals ahnte niemand, dass ich hörbehindert bin bzw. sogar gehörlos sein würde. Entsprechend wurden sich keine Gedanken über Hörgeräte oder Cochlea Implantate gemacht.

Bereits mit einem halben Jahr stellte meine Mama fest, dass mit meinem Gehör etwas nicht stimmte. Im Gegensatz zu meiner Schwester reagierte ich nicht auf Geräusche. Ich reagierte nicht, wenn man mit mir reden wollte oder ich nach Lauten Ausschau halten sollte. Diese Erkenntnis führte zu umfangreichen HNO-Besuchen. Einige Ärzte waren zuerst der Ansicht, dass mit mir alles in Ordnung sei, da dies mit der Entwicklung zusammen hängen könnte.

Der Beharrlichkeit meiner Eltern ist es zu verdanken, dass bei mir, mit etwa einem Jahr im Klinikum Großhadern in München, meine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit  festgestellt wurde.

Für meine Eltern war diese Nachricht zunächst ein Schock, sie erholten sich jedoch rasch und überlegten, welche Möglichkeiten ich haben konnte. Sie wussten nicht, ob ich jemals sprechen oder einen Beruf erlernen könnte.

Unterstützung ist der Schlüssel zum Erfolg

Dank der richtigen Leute am richtigen Ort bekamen meine Eltern Unterstützung. Sie besuchten Gebärdensprachkurse und erhielten umfassende Informationen zu Kommunikationsmöglichkeiten, technischen Hilfsmitteln (Hörgeräte) sowie zu Möglichkeiten eines Bildungsweg durch Kindergarten und Schule und auch logopädischer Förderung.

Mit 18 Monaten bekam ich, vom Hörgeräteakustiker Leonardo Palumbo, meine ersten Hörgeräte. Von da an begann eine wunderbare Reise durch Sprache, Musik, Töne, Klänge und die Kommunikation.

Jedes Geräusch machte mich neugierig. Meine Eltern kommunizierten mit mir, sowohl in der Gebärdensprache, als auch in der gesprochenen Sprache. Sie waren und sind auch heute noch der Ansicht, die Kombination beider Sprachen führe zu einer optimalen Sprachentwicklung hörgeschädigter Kinder. Für ihre offene Einstellung bin ich ihnen auch heute noch dankbar, da ich mit Wehmut erleben musste, wie gehörlosen und schwerhörigen Kindern eine der beiden Sprachen - insbesondere die Gebärdensprache - verwehrt wurde und sie nicht immer berufliche Chancen wie hörende Kinder im späteren Leben ergreifen konnten.

Neben der Hörbehinderung erkrankte ich an spastischer Bronchitis. Dies ist eine insbesondere bei Erkältungen auftretende Asthma-Erkrankung. Die Folgen waren: Schlafstörungen und Krankenhausbesuche. Im Alter von vier Jahren besserte sich das Asthma und ich begann im gleichen Alter, mich richtig zu artikulieren.

Bildung ist keine Frage von Behinderung

Im Jahre 1992 besuchte ich die Schulvorbereitende Einrichtung, kurz SVE in München-Johanneskirchen. Wir waren in einer Gruppe sechs bis acht Kinder und waren alle schwerhörig. 1995 durfte ich die dortige Schwerhörigenschule besuchen. Die Regel-Grundschule dauert vier Jahre. Ich besuchte wie viele andere schwerhörige Schüler und Schülerinnen die Grundschule fünf Jahre. Grund war, dass wir auf Grund unserer Hörbehinderung mehr Zeit bekamen, um auf den gleichen Stand zu kommen, wie Kinder in der Regelschule. Nun begann auch die Zeit, in der meine Eltern und ich überlegten, wie mein schulischer Werdegang weitergehen sollte.

1996 erlebte ich meinen ersten von insgesamt drei Hörstürzen mit einem dauerhaften Tinnitus. Seitdem verschlechterte sich mein Gehör kontinuierlich.

Dennoch und vielleicht auch gerade deshalb wollte ich noch mehr lernen und wollte auch den Menschen zeigen, dass ich trotz meiner Hörbehinderung in der Lage war, mich beruflich entfalten zu können. Wir hörten, dass die Samuel-Heinicke-Realschule in München zum ersten Mal den Einstieg bereits ab der fünften Jahrgangsstufe anbot. Ich wollte auf jeden Fall die Realschule besuchen. Die Aufnahmeprüfung stand an. Gesagt, getan und geschafft: Stolz.

Ein wichtiger Hinweis für die Leser und Leserinnen: Die Samuel-Heinicke-Schule ist eine staatlich anerkannte Schule für Gehörlose und Schwerhörige. Der Vorteil an der Schule ist, dass hörende und hörgeschädigte Schüler und Schülerinnen gemeinsam in einer Klasse unterrichtet werden.

Folge deiner Überzeugung

Nach sechs Jahren Realschule hatte ich 2006 den Abschluss in der Tasche. Fertig war ich aber noch nicht.

Ich wollte weiterhin die Schule besuchen und tat dies in der Samuel-Heinicke-Fachoberschule, kurz FOS. Diese Schule bietet vier verschiedene Fachbereiche an: Technik, Kaufmännisch, Soziales sowie Kunst. Ursprünglich wollte ich mich beruflich im künstlerischen Bereich entwickeln. Allerdings ist es - unabhängig von der Hörbehinderung - in der Kunstbranche schwer, Fuß zu fassen, so entschied ich mich für den sozialen Bereich.

Ich wollte neben der Kunst auch immer mit Menschen arbeiten, insbesondere mit Gleichgesinnten. Das heißt, ich wollte schon immer andere Gehörlose und Schwerhörige motivieren, trotz ihrer Hörbehinderung selbstbewusst - mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen - ihren Weg zu gehen. Dieser Fachbereich ermöglichte mir dies.

Auch dank meiner weiter anhaltenden Motivation, erreichte ich meine Fachhochschulreife im Zweig Soziale Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule.

Mitten in der FOS-Zeit (2007) habe ich beschlossen mir ein CI am rechten Ohr implantieren zu lassen, da ich mit meinem Hörgerät so gut wie gar nichts mehr hörte. Ich liebe Musik, die Geräusche und Stimmen in meiner Umgebung und dies wollte ich auf keinen Fall vermissen.

Zuerst waren die Ärzte etwas skeptisch über meinen Beschluss, aber dann waren sie wegen meiner ersten Hörergebnisse nach der Anpassung begeistert und haben mir empfohlen ein zweites CI setzen zu lassen.

Ich musste dennoch das Hören neu erlernen. Am Anfang klang alles noch ziemlich hoch. Besonders das Besteck und Teller waren für mich sehr anstrengend und unangenehm. Mit der Zeit wurde es durch regelmäßige Anpassungen und fleißigen Hörtrainings besser. Ich lehnte trotz positiver Ergebnisse zunächst eine zweite Implantation ab. Es musste erst ein weiterer Hörsturz folgen, damit ich mich für die Operation entschied.

Zwei sind besser als eins

Seit dem zweiten CI höre ich weit besser und ich konnte mich viel besser - auch mit Hörenden - verständigen.

Die enorme Leistung, die ein Cochlea Implantat bringt, schafft ein Hörgerät nicht ansatzweise. Die Gebärdensprache ist und bleibt jedoch mein ständiger und wertvoller Begleiter. Es ist neben der deutschen Sprache meine zweite „Muttersprache” und ist, vor allem in bestimmten Situationen, wie Fortbildung, Arbeit, Schwimmen und Kommunikation mit anderen Gebärdensprachlern eine große Unterstützung.

Während der Studienzeit habe ich eine Mikroport-Anlage (kurz FM-Anlage) benutzt und konnte somit die Vorlesungen gut verfolgen, da ich immer aktiv mitschreiben musste. Ohne die FM-Anlage wurde ich schnell müde. Im 6. Semester habe ich für ein Modul einen Gebärdensprachdolmetscher gebraucht, da ich trotz Bemühen und Rückmeldung den Professor nicht verstehen konnte. Erst im 7. Semester habe ich die Zusage für einen Dolmetscher erhalten und somit zwei Schriftdolmetscher über VerbaVoice beauftragt.

Nach meinem Studium in München zog es mich beruflich nach Linz in Österreich. Warum Österreich? Ich habe meine große Liebe kennen und lieben gelernt und er ist Österreicher. 

Als Sozialarbeiterin konnte ich meine ersten beruflichen Erfahrungen in der Arbeitsassistenz des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie erwerben. Die Aufgabe beinhaltet Begleitung und Beratung Gehörloser und Schwerhöriger in ihrem beruflichen Leben. Die Situation vieler Gehörloser und Schwerhöriger war zum Teil miserabel. Viele waren auf Gebärdensprachdolmetscher angewiesen, da sie der deutschen Schriftsprache nicht mächtig sind. Wenn sie einen zweiten Bildungsweg begehen wollten, wurde eine Kostenübernahme von Gebärdensprache nicht bewilligt und die Gehörlosen sowie Schwerhörigen fühlten sich dadurch demotiviert. Da ihre Situation nicht zufriedenstellend war, nahmen sie Jobs als Hilfsarbeiter an.

Ein Jahr später habe ich eine zweite Stelle beim Hand-Werk Ausbildungsassistenz der Caritas für Menschen mit Behinderung bekommen. Dort war - anders als bei meinen KollegInnen im Hand-Werk - mein Aufgabenfeld die Vermittlung mehrfachbehinderter Jugendlicher (Hörbehinderung und einer zusätzliche Behinderung) auf einen Platz in geschützten Werkstätten.  Dazu durften wir auch Erwachsene in ihrem zweiten Bildungsweg begleiten. Es war für meine KollegInnen und mich eine Herausforderung, weil wir da sehr oft auf Barrieren stießen und die Erwachsenen von ihrer eignen Umgebung nicht bzw. wenig motiviert wurden.

Nach meiner Karenz (Mutterschaftsurlaub) wechselte ich von der Arbeitsassistenz in die Sozialberatung des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie. Mein Schwerpunkt als Sozialarbeiterin ist die Beratung und Begleitung der Gehörlosen und Schwerhörigen in ihrem alltäglichen Leben. Und in diesem Bereich bin ich neben der Hand-Werk Ausbildungsassistenz auch heute noch.

Es gefällt mir als Sozialarbeiterin sehr gut, da ich Gehörlose und Schwerhörige jeden Alters zur Selbständigkeit mobilisieren kann. Trotz meiner Fähigkeit zum Telefonieren verwende ich sehr gerne den sogenannten RelayService, dieTelefonvermittlung für Gehörlose und Schwerhörige,  ähnlich dem Tess Relay Service  in Deutschland.

Zum einem, weil ich bei längeren und mehreren Telefonaten schneller müde werde und ich bei einem Gebärdensprachdolmetscher Erleichterung finde. Zum anderen verwende ich den RelayService auch, um die Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ich erlebe in meiner Arbeit seit Jahren, dass viele Gehörlose und Schwerhörige das System des RelayServices noch nie gesehen und ausprobiert haben. Mir ist es wichtig, dass jeder Hörbehinderte gleich viele Chancen erhält, da nicht jeder in der Lage ist, mit einem Cochlea Implantat ausreichend zu hören.

Gebärdensprache und Cochlea Implantat ergänzen sich

Ich bin sehr froh, die Kombination aus Gebärdensprache und Cochlea Implantat genießen zu dürfen und möchte diese Kombination allen Eltern empfehlen, die ein Kind mit CI versorgt haben lassen. Jedoch möchte ich auch jedem Menschen - egal welches Hörstatus‘ - darauf hinweisen, dass ein Cochlea Implantat nicht das Gehör ersetzt, sondern eine Unterstützung ist.

Das Cochlea Implantat ist für viele Betroffene ein Hilfsmittel, um durch die Welt der Töne zu kommen. Nicht jeder CI-Träger kann automatisch alles hören, verstehen oder gar telefonieren.

Derzeit kenne ich in Oberösterreich keine Sozialarbeiter mit einer Hörbehinderung und wünsche mir von Herzen eine Kollegin oder einen Kollegen mit dem ich mich austauschen kann. Dies zeigt wieder, wie hart der Weg eines Hörbehinderten ist, der nach einer höheren Bildung strebt.

Mein Appell an alle Leserinnen und Leser:
Egal, woher ihr kommt, euer bisheriger Weg ist oder welche Erfahrungen ihr mit Eurer Hörbehinderung gemacht habt:

 
Mai 2018
Lisa Kain