Lautlos ins Gespräch vertieft - TAZ vom 06.10.2004
Lautlos ins Gespräch vertieft
Hörschäden gelten als gravierende Behinderung, da die Betroffenen oft vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten sind.
Die Rheinische Schule für Hörgeschädigte bemüht sich um mehr Integration
von Christiane Martin
"Das hast du ganz toll gemacht", lobt Henrike Boedler einen ihrer Schüler. Sie artikuliert die Worte deutlich, gebärdet dabei und nimmt den Schüler zum Schluss kräftig in den Arm - Alltag an der Rheinischen Schule für Hörgeschädigte in Köln. Über 200 schwerhörige oder gehörlose Kinder werden hier in Kindergarten, Grund- und Hauptschule unterrichtet und gefördert. Kinder mit einer besonders gravierenden Einschränkung, denn das Gehör gilt als wichtigstes Kommunikationsorgan.
Schon Immanuel Kant hatte erkannt: "Nichtsehen können heißt, die Menschen von den Dingen zu trennen; Nichthören können heißt, die Menschen von den Menschen zu trennen". Da Hörgeschädigte von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Alltags abgeschnitten sind, fällt es ihnen oft schwer, "normale" zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. "Viele Schüler sind zusätzlich zu ihrer Körperbehinderung auch verhaltensauffällig", sagt Henrike Boedler. Für sie ist das eine zwangsläufige Folge der gestörten Kommunikationsmöglichkeiten.
Deshalb wird an der Rheinischen Schule für Hörgeschädigte auch viel Wert darauf gelegt, dass die Kinder nicht nur die Gebärdensprache, sondern auch die Lautsprache lernen. Das bedeutet, von den Lippen abzulesen und sprechen zu lernen, um sich auch im hörenden Umfeld verständigen zu können. Was trotzdem fehlt, ist der Ton, der bekanntlich die Musik macht. "Die Gebärdensprache bietet für Hörgeschädigte im Vergleich zur Lautsprache mehr Möglichkeiten, sich im emotionalen Bereich auszudrücken, sie grenzt aber oft auch aus", weiß Schulleiterin Sigrid Bauschulte. Eine Kommunikation mit Hörenden ist über die Gebärdensprache kaum möglich. Auch wenn die Gebärden oft sehr anschaulich und nahe liegend sind, versteht sie doch keiner, der sie nicht jahrelang geübt hat. Oft beherrschen nicht einmal die Eltern Hörgeschädigter die Gebärdensprache. Für Außenstehende ist sie dennoch das auffälligste Merkmal Gehörloser. Mutet es doch faszinierend an, wenn man auf der Straße einer Gruppe Menschen begegnet, die ohne einen Laut von sich zu geben, angeregt in ein Gespräch vertieft sind. Mitreden kann ein Hörender da aber kaum.
In der Hörgeschädigtenpädagogik ist die Gebärdensprache entsprechend umstritten. Ein eindeutiges Pro oder Contra kann auch Sigrid Bauschulte nicht geben. "Die Bandbreite der Hörschädigungen ist so groß, dass man einfach individuell entscheiden muss, ob die Gebärdensprache sinnvoll ist", sagt sie. Bei hochgradigen Hörschädigungen sei sie unterstützend in jedem Fall einzusetzen. Wenn möglich, müsse aber der Lautsprache der Vorzug gegeben werden. In der Klasse von Henrike Boedler ist das nur schwer möglich. Fünf von sechs Schülern sind fast völlig gehörlos. "Da komme ich um die Gebärden nicht herum", sagt sie.
Allerdings werden die Kinder mit hundertprozentigem Hörschaden immer seltener. Inzwischen bekommen viele Hörgeschädigte bereits im Kleinkindalter eine Art Hörprothese. Benannt nach dem lateinischen Wort für Gehörschnecke ersetzt das Cochlea-Implantat zerstörte Sinneshärchen im Innenohr. Normalerweise geben die Sinneshärchen die vom Außenohr und Mittelohr aufgenommenen und weitergeleiteten Schwingungen an die Sinneszellen weiter, die diese in einen elektrischen Reiz umwandeln. Dieser regt den Hörnerv an, der den Impuls an das Gehirn weitergibt. Hier erst werden aus dem Schall Geräusche, Stimmen und Musik. Das Cochlea-Implantat reizt die Sinneszellen über Elektroden. Hightech im Innenohr, die auch an der Rheinischen Schule für Hörgeschädigte immer mehr Kindern das Hören er-möglicht. "Vor allem im Kindergartenbereich haben wir zunehmend Kinder mit einem Implantat", sagt Bauschulte.
Quelle taz Köln Nr. 7480 vom 6.10.2004, Seite 4, 136 Zeilen (TAZ-Bericht), Christiane Martin
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