Über zwanzig Elektrofäden im Ohr - Reutlinger Generalanzeiger vom 09.11.2005
Über zwanzig Elektrofäden im Ohr
Medizin - Die Walddorfhäslacherin Yvonne Schweiker kann mit Hilfe des Cochlea-Implantats wieder hören
VON VEIT MÜLLER
WALDDORFHÄSLACH. Als sich ihre Mutter die Hände wusch, fragte die 14-jährige Yvonne plötzlich: »Mamma, was ist das?« Es war das Rauschen des Wassers. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte das nahezu taube Mädchen ein Geräusch wahrgenommen. Ärzte der Uni-Klinik Hannover hatten ihr nur wenige Wochen zuvor ein Cochlea-Implantat eingesetzt und ihr so ein völlig neues Leben ermöglicht.
Das war im April 1993. Heute, zwölf Jahre später, führt die Walddorfhäslacherin ein fast normales Leben. Das Implantat hat ihr zwar nicht die volle Hörfähigkeit zurückgebracht, doch es sichert ihr eine weitgehende Selbstständigkeit. Sie hat einen Beruf erlernt, arbeitet als Chemie-Laborantin in Tübingen und fährt Auto.
Doch es war ein langer Weg dorthin. Woher Yvonne Schweikers Schwerhörigkeit kam, weiß bis heute niemand. Ob sie schon von Geburt an fast taub war oder ob sie in den ersten Monaten ihres Lebens ihre Hörfähigkeit durch eine Krankheit verloren hat, konnte kein Arzt herausfinden.
Hochgradig schwerhörig
Ihre Eltern merkten erst zwei Jahre nach Yvonnes Geburt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Zuvor hatten sämtliche Vorsorgeuntersuchungen nichts ergeben, erst an der Tübinger Uni-Klinik stellten die Mediziner fest, das Kind ist hochgradig schwerhörig (»an Taubheit grenzend«), wie ihre Mutter Erika Schweiker erzählt.
Yvonne bekam damals zwei Hörgeräte, doch die halfen nicht viel weiter. Sie ging in den Schwerhörigen-Kindergarten in Nürtingen, dort auch in die Johannes-Wagner-Schule, die Hörgeschädigte sprachlich fördert, wo sie ihren Hauptschulabschluss machte.
Schon während ihrer Schulzeit, als Yvonne zwölf Jahre alt war, machte ihr Hausarzt die Familie auf das Cochlea-Implantat aufmerksam. Damals wie heute ist die HNO-Klinik der medizinischen Hochschule in Hannover das weltweit führende Zentrum für diese Operationen. Die Schweikers entschlossen sich nach längeren Gesprächen mit den Spezialisten für diesen Eingriff.
Bei der Implantation werden hauchdünne Elektrofäden, bei Yvonne waren es 22, in die Gehörschnecke gelegt und mit einem Mikrocomputer verbunden, der zusammen mit einem Magnet in den Schädelknochen eingefräst wird. Die Implantate, nach dem medizinischen Begriff für die Innenohrschnecke, Cochlea benannt, ersetzen die Funktion der Hörsinneszellen: Sie nehmen den Schall über ein Mikrophon auf, das hinter dem Ohr angebracht ist, setzen ihn in eine Abfolge von elektrischen Impulsen um und geben diese über eine Elektrode auf die Hörnervenfasern weiter.
»Es war schon ein tolles Erlebnis«, beschreibt Erika Schweiker den Augenblick, als ihre Tochter nach der Operation zum ersten Mal etwas hören konnte. Doch mit dem Eingriff war längst nicht alles vorbei. »Yvonne musste hinterher viel mithelfen«, berichtet Erika Schweiker. Nur durch ein regelmäßiges Hörtraining schaffte ihre Tochter es, mit dem Sprachprozessor hinterm Ohr umzugehen.
In kleinen Schritten ging es voran. Zu Hause hörte sie zum ersten Mal Vogelgezwitscher. Sie lernte mehr und mehr, einzelne Töne zu unterscheiden. Inzwischen kann sie auch mit ihr bekannten Menschen telefonieren. Yvonne schaffte schließlich die Mittlere Reife und lernte Chemielaborantin, ein Beruf, der ihr sehr viel Spaß macht. (GEA)
Quelle: http://www.gea.de/detail/505083
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